Full text: Philosophie der Kunst

8 
Das Problem der Kunst. 
liehe Seele beglückt, weil sie in ihm sich spiegelt. Das ganze 
Leben hindurch bleibt es eine unablässige Mühe, aus eigener oder 
aus fremder Kraft alle die Lücken der Welt der Erfahrung, die 
zugleich die Welt unseres Handelns ist, mit dem Zauber der 
Kunst auszufüllen; bei diesem Bemühen binden sich die fremden 
Kräfte an unsere, sie vermischen sich mit den unseren bei der Er¬ 
zeugung der schönen Dinge, die der Mensch stets sucht, und die 
er, hat er sie einmal gefunden, nicht müde wird, zu betrachten 
und zu genießen, die er zu seinem täglichen Brot, zu seinem Be¬ 
sitztum, ja, zur Substanz seiner Seele macht. Ohne diese unab¬ 
lässige Kraftaufwendung vermag die lebenspendende Luft nicht 
in alle Poren des schweren und wuchtenden Organismus des realen 
Lebens einzudringen, wie sie dem schönen Gegenstand eigen ist, 
den der Mensch nicht als gegeben findet, sondern mit göttlicher 
Kraft erschafft. So ist nichts überzeugender und erschütternder 
für den, der nachzudenken und mit vertieftem Blick zu schauen 
gewillt ist, als der Anblick, den ein weites Theater oder ein großer 
Konzertsaal bietet: hier findet sich eine Vielheit von Menschen 
jedes Alters, Geschlechts und verschiedenster Bedingungen; ver¬ 
gessen sind die täglichen Mühen, die üblichen Gedanken und der 
übliche Zeitvertreib, vergessen die persönlichen Sorgen. In einem 
einzigen Gefühl finden sich alle: in dem, dem der Künstler in der 
Tragödie, im Gesang, in der Symphonie Ausdruck verlieh. Und 
diese Menge so untereinander verschiedener Seelen mündet ein 
in das leidenschaftliche Lied des Sängers oder in das Klingen einer 
Violinsaite, ergießt sich hierin und schwingt gleichgestimmt mit. 
Sie, deren jeder sein eigenes Leben, seine Welt, seine Vorstel¬ 
lungen und seine Neigungen hat, fühlen in ihrem Innern ein ge¬ 
meinsames Bedürfnis, das sie nur zu stillen vermögen, indem sie 
ihre Sonderneigungen und -Vorstellungen ablegen und auf das 
Äußerliche der Welt verzichten, in der sich für jeden von ihnen 
das tägliche Leben abspielt: die gleiche Seele erwacht in ihnen 
allen, die Menschenseele, die gleiche, die den schönen Gegen¬ 
stand schafft und schaut. Gleich ist die Seele in allen und so echt 
menschlich und fähig, durch verschiedene Epochen, Nationen und 
Rassen zu ihrer Einheit zurückzufinden, wie stark auch jedes Kunst¬ 
werk die unzerstörbare Spur von Zeit und Ort trägt, in denen es 
entstand, von Ideen und Leiden, die zur Gestaltung des Lebens, der 
Seele zusammenwirkten, die es erzeugte. So erscheint es klar, daß 
jenseits dieser scheinbaren Differenzen im Innern des Menschen, 
in der Autonomie seines Lebens, jene gleichgestimmte Seele lebt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.