Full text: Philosophie der Kunst

Der menschliche Charakter der Kunst. 
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eignetsten Gestalt, um auf den Geist hinzudeuten, der sie schafft 
und ihnen eine Schönheit gibt, die uns für einen Augenblick ihren 
bloßen Zweckcharakter vergessen läßt. 
Und die stummen Wände werden mit Bildern und Geschichten 
geschmückt und spiegeln dem Bewohner die teuren Phantasien 
wider, in denen sein Herz mit Freude verweilt. Eintönige und 
farbig belebte Bilder führen abwechslungsvoll die als Geheimnis 
im Herzen verborgenen Leidenschaften vor, des Herzens, das gern 
Vom Äußeren des Hauses zu sich selbst zurückkehrt, um sich in 
seine eigenste Innerlichkeit zu versenken. Von den niedersten For¬ 
men der primitiven Kunst bis zu den höchsten und komplizierten 
der Naturvölker umschlingt der menschliche Geist in immer mäch¬ 
tigerer Umarmung all die materiellen Dinge, die ihn umgeben, oder 
mit denen er sich umgibt, um sich dem unerschöpflichen Leben an¬ 
zugleichen, das sich aus seinem Innern erhebt, und um ihm Aus¬ 
druck zu verleihen: dem empfindungsreichen Leben, dem alles sich 
beseelt und Sprache annimmt und sich in eine Welt erhebt, die 
höher ist als die Welt der materiellen und endlichen Dinge. Kaum 
hat der Mensch die Augen dem Licht zugewandt, kaum ist er ge¬ 
boren, so sucht er in der harten Welt, in der er leben muß, die für 
sein Dasein günstigen und angemessenen Bedingungen, und seine 
Tränen quellen hervor, wenn er auf ein Hindernis stößt, das zu über¬ 
winden ist. Da findet er Hilfe, in dem Kampf zu siegen, und er 
wird gleichsam über ihn emporgetragen, da, wo alle Hindernisse 
und die Grenzen des natürlichen Daseins in der Unendlichkeit des 
Geistes überwunden werden: bei der Zartheit des mütterlichen 
Liedes, das die Wege des Herzens zu finden, die Leiden zu mildern, 
die Tränen zu trocknen und mit der gleichen reinigenden Kraft die 
Heiterkeit zu verleihen weiß, die dieser Mensch, sobald er er¬ 
wachsen ist und über die Schmerzen der Welt nachdenkt, aus jedem 
reinen Kunstwerk in sich wird einströmen lassen, das ihm seine 
Schönheit enthüllt. 
Kaum kann das Kind auf seinen Füßen stehen, so genießt es 
schon die neu eroberte Selbständigkeit, um sich frei zu bewegen, 
um Stückchen von Holz und Papier, kleine Zweige und Steine zu 
sammeln, mit denen es sein eigenes schöpferisches Vermögen zu 
erproben beginnt. Bald bemächtigt es sich eines Bleistifts oder 
einer Kohle, um Figuren zu zeichnen, die sich allmählich zu jener 
unbestimmten Idee gestalten, wie sie von fern ihm innerlich 
vorschwebt, und sie nehmen Form an, sie entfalten sich und 
stellen etwas oder jemand dar, mit dem sich abzugeben die kind¬
	        
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