Liebe und Sprache.
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endlichkeit, die jede Untersehiedenheit enthält: angefangen von
der, durch die ich mich von dir und allen anderen unterscheide.
Wenn tatsächlich jede Vielfältigkeit und Vollkommenheit jenseits
des Gefühls entsteht, so kann, wer sich im Fühlen aufhält oder sich
auf es bezieht, bei der Betrachtung des Kunstwerkes als Kunstwerk
nicht sozusagen viele Unendlichkeiten denken, deren jede in sich
geschlossen ist und doch zugleich mit allen anderen besteht wie die
Leibnizschen Monaden. Die Unendlichkeit ist eine einzige. Es gibt
nicht „die Menschen“, sondern „den Menschen“. Si vis me flere,
dolendum est primum ipsi tibi, kann man dem Dichter sagen; denn
wenn er weint und also wahrhaft und tief erschüttert ist, so gehören
seine Tränen nicht mehr zu ihm, der mir gegenübersteht. Sie ge¬
hören ihm und mir wie allen: nicht einem einzelnen Menschen,
sondern dem Menschen. Die Humanität des Künstlers, seine Uni¬
versalität und daher seine Unsterblichkeit entspringen dem Quell,
aus dem seine Kunst strömt: dem Gefühl. Dem Gefühl, das sich zu
offenbaren hat (tatsächlich offenhart es sich stets), das in jedem von
uns verwurzelt ist und uns aufruft, das sich uns nähert, uns in ein
und das gleiche Lehen einschließt, mögen wir auch räumlich und
zeitlich weit voneinander entfernt sein, das in unsere Brust die
gleiche Glut wirft und uns nachweist, daß die Körper verschieden
sind, daß die Seele aber eine einzige ist.
4.
Die Liebe.
Die Liebe, diese heftige und gewaltige Kraft, die aus dem
Innern der Natur selbst losgerissen scheint und mit dem Ungestüm
und dem Rasen des Sturmes mitreißt, die sich dennoch besänftigt,
edel wird und mit dem Nachdenken und dem Willen zugleich
sich mäßigt, die sich als eine Idealität des Geistes verfeinert; die
Liebe, deren Verwandtschaft mit der Kunst als der Erzeugerin
von Schönheit man so oft in der Philosophie der Kunst bemerkte,
und die in der Platonischen Schule des Hellenismus wie der
Renaissance zu einem der glücklichsten Gegenstände ästhetischer
und metaphysischer Spekulation wurde, muß von den Gipfeln, auf
die man sie stets erheben wollte, zum Grunde des Lebens des Geistes
zurückgeführt werden. Nicht die Ideen, die Wahrheit, der Gedanke
ziehen die Seelen an und erfüllen sie mit Sehnsucht und glänzen
wie liebenswürdige Schönheit. Die Schönheit, die erschüttert und
mit Liebe erfüllt, ist da, wo der Geist sich nach der Wahrheit und