Das Gefühl.
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medio de fonte leporum surgit amari aliquid. Ihr Leben besteht
nur im fortwährenden Heraustreten aus ihrem Gegensatz. Da¬
her haben von Epikur bis Kant alle, die diese Dialektik des Ge
fühls besonders sorgfältig betrachtet haben, die Freude als ein
Aufhören von Schmerz definiert.12) Andererseits bringt der Schmerz
eine Beraubung, ein Verschwinden von etwas Positivem zum Aus¬
druck. Schmerz ist der von Francesca, die der „glücklichen Zeit“
gedenkt, Schmerz ist der von Ermengarda, die von jeglicher
Hoffnung verlassen ist und in deren Gedächtnis „die ungerufenen
Erinnerungen vergangener Tage“ drängen. So könnte auch der
Schmerz als Aufhören der Freude definiert werden. Die Wahrheit
ist, daß sie in ihrer Entgegensetzung zwei abstrakte Begriffe sind,
und daß Opfer des Spiels dieser Abstraktionen sowohl der Mensch
bleibt, der das Leben wie einen Nektartrank genießen will, als
auch der, dem das Leben wie ein bitterer Kelch voll Absinth ist.
Optimismus und Pessimismus sind zwei falsche Philosophien, weil
sie auf diesen beiden Abstraktionen errichtet sind.
Wie jedes Sein und Nichtsein, so haben Freude oder Schmerz
ihre Konkretheit in ihrem Werden, d. h. in der nicht statischen,
sondern dialektischen und aktuellen Aufhebung der beiden ab¬
strakten Positionen.13) Ihre Abstraktheit überwindet man nicht,
indem man miteinander vermischt, was man früher getrennt ge¬
halten hatte, und indem man vor dem Gedanken das Ganze fest¬
hält, wie man früher die Teile hielt. Zwei Gegensätze sind nicht
Teile, die man zusammenstellen kann; denn Gegensätze sind sie,
12) Der klarste, schärfste und wirkungsvollste Beweis wurde von Pietro
Verri in seinem „Discorso sull’indole del piacere e del dolore“ (1773) geführt.
13) Es gibt Leute, die von Dialektik und Einheit von Entgegengesetzten
sprechen und dabei zeigen, daß sie nur eine statische Einheit zu begreifen in
der Lage sind. Eine solche Einheit ist das Schlachtroß des Verfassers einer
glänzenden Abhandlung, die großen Erfolg hatte, obwohl sie offenkundig die
Spuren der Unreife eines ersten Versuches zeigte, sich des Hegelschen Ge¬
dankens zu bemächtigen: ich meine die Abhandlung „Lebendiges und Totes
in Hegels Philosophie“. Hier ist das Tote nicht tot, noch das Lebendige
lebendig: sondern es blitzt nur hier und da ein Funke der tiefen Wahrheit
einiger Begriffe Hegels auf. Diese Begriffe werden von dem Verfasser dieses
Bucbes nur unklar, wie in Wolken, verschwommen wahrgenommen, ohne die
entsprechende ernsthafte geschichtliche Vorbereitung, die das Verständnis einer
Philosophie wie der Hegelschen erfordert; hat sie doch tiefe Wurzeln in der
geschichtlichen Entwicklung der Philosophie durch die Bedeutung, die be¬
stimmte Probleme allmählich in dieser Entwicklung bekamen. Der Verfasser,
von dem wir sprechen, hat gezeigt, daß er sich diese Bedeutung hat entgehen
lassen, als er mit seiner kuriosen Erfindung der „theologisierenden Philosophie“
herauskam: eine der naivsten Polemiken, mit der Philosophen, die Liebhaber
des Bizarren und des Paradoxen sind, mittels der Philosophie gegen die Philo¬
sophie gekämpft haben.
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