Die Form.
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künstlerische Materie gäbe, und eine prosaische Materie, die nur
wissenschaftlicher oder philosophischer Behandlung zugänglich
wäre. Sinnlos ist daher jeder Versuch, die Kunst mittels der Merk¬
male der Materie bestimmen zu wollen. Kunst und Gedanke können
sich das Universum nicht teilen wie die Söhne des Saturn.
Falsch ist vor allem die Unterscheidung zwischen Kunst und
wissenschaftlichem Erkennen, das sich auf den besonderen (oder
individuellen, wie man sagt) Gegenstand in der Kunst und auf den
universalen Gegenstand in der Wissenschaft gründet. Schon
Aristoteles mahnte in seiner Poetik, man möge der Dichtung
immer eine gewisse, von der historischen Darstellung aus¬
geschlossene Universalität einräumen. Und wirklich gibt es keine
künstlerische Darstellung, mag sie einen noch so besonderen Gegen¬
stand verkörpern, wie etwa ein Bild, die nicht die Seele über die
Welt der hinfälligen Dinge erhebt, der alles Partikuläre einschlie߬
lich der Menschen angehört, und nicht die Sehnsucht nach etwas
Unsterblichem, Unendlichem und Göttlichem erweckt. Und selbst
die abstraktesten Gedanken haben oft die Kraft, durch das tiefe
Gefühl, mit dem sie erdacht und dargestellt wurden, die Seelen
zu erschüttern. Bücher religiösen oder philosophischen Denkens er¬
halten in der Geschichte der dichterischen Werke ihren unbestrit¬
tenen Platz, obwohl sie Geister von auserlesener Feinheit und von
besonderer gelehrter Vorbereitung erfordern, um verstanden und
gewürdigt zu werden.
Ebenso falsch ist ferner die Unterscheidung zwischen Phantasie
und Verstand als Möglichkeiten oder Funktionen des Geistes, die
zwei verschiedenen Reihen von Gegenständen oder Erzeug¬
nissen des Geistes entsprechen. Auch wir werden die künstlerische
Aktivität des Geistes Phantasie nennen, wenn wir uns darüber ver¬
ständigen, mit diesem Namen einfach die unaktuelle subjektive
Form der geistigen Aktivität zu bezeichnen. Aber unsere Phan¬
tasie ist weder ein Vermögen noch eine besondere Funktion unserer
inneren Aktivität. Diese ist immer Gedanke, wenn sie auch einer
Unterscheidung von Momenten in seiner Entwicklung zugänglich
ist. Und wenn diese Entwicklung sich verwirklicht und erfüllt hat,
ist ihr Erzeugnis nichts anderes als der Gedanke in der Fülle und
Totalität seiner Momente und daher in seiner wesentlichen Form.
Ganz gleichförmiger und ununterscheidbarer Gedanke, in dem es
nichts Phantastisches und Verstandesmäßiges oder Logisches mehr
gibt; denn das Moment der reinen Phantasie ist überwunden. Oder
besser: das Phantastische ist ganz eins mit dem Logischen, ist in ihm
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