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Die Aktualität der Kunst.
daraus entsteht, daraus muß ein lieblich-schöner See entstehen, der
nicht ein totes Gewässer ist, sondern in dem sich ein kräftiges Le¬
ben entwickelt, und der Quell wird nicht erschöpft, sondern belebt
alles. Aus dem göttlichen Strom der Dichtung entspringt so ein Ge¬
danke, der all das ist, was der Dichter uns vorstellt, worüber er
nachsinnt und uns nachsinnen läßt; er denkt und läßt uns denken.
Wenn wir in kaltem oder zerstreutem Seelenzustande lesen, so
kommt es vor, daß wir verstehen, was der Dichter uns sagt; die
Seele aber flüchtet, die in dem, was er uns sagt, spricht und sich
enthüllt, nicht indem sie sich darstellt oder sich zum Gegenstand
logisch begründeter Schilderung macht, sondern indem sie den
ganzen Gegenstand des Werkes mit seinem Ich belebt, und den
Ton von der prosaischen Sprache zum lyrischen Sang erhebt. Die
Kunst, die, wie der Dichter sagt, „alles tut und nie entdeckt wird“,
enthüllt sich zwar aber nicht, indem sie etwas tut, aber nicht sagt,
was sie tut. Was sie sagt, ist Fabel, Mythos, etwas, was der Ge¬
danke hervorzaubert, und hat eine objektive Vorstellbarkeit, durch
die es allen und niemandem anzugehören scheint: der Gegenstand
der Ritterdichtungen z. B., der in den Volksgesängen, in den über¬
lieferten Novellen, in einer Reihe von Dichtungen usw. behandelt
und wieder behandelt wurde. Ein einfacher Gegenstand, der
wenigstens in großen Zügen im „Rasenden Roland“ vorkommt, wie
er schon früher vorkam. In großen Zügen, soweit dieser Gegen¬
stand zum Schema geworden ist, nur noch in abstrakter Gestalt auf-
tritt, die von unseren Verallgemeinerungen herrührt, und die
eigentlich mit keiner der sogenannten Quellen des „Rasenden Ro¬
land“ übereinstimmt. Kurz, es ist etwas Abstraktes, das, wenn
man es konkret betrachtet, in jeder Quelle und in der großen
Dichtung eine besondere Form annimmt, die sich aus der mehr
oder minder aktiven und mächtigen Seele ableitet, die sich diesen
Gegenstand zu eigen macht und ihn aus ihrem Innern wieder an
die Außenwelt bringt.
5.
Falsche Unterscheidungen zwischen Kunst
und Gedanken.
Sinnlos ist jeder Versuch, den man anstellt — und wie viele
sind angestellt worden! —, um die Merkmale des eigentlichen
Gegenstandes der Kunst zu bestimmen, als ob es eine zur Dich¬
tung gehörende, für sich selbst dichterische und ganz allgemein