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Die Aktualität der Kunst.
denke man auch an Baum garten und seine Ästhetik als
scientia cognitionis sensitivae, die er, der als erster von Ästhetik
sprach, zu einem Analogon der Logik, der Wissenschaft der ver¬
standesmäßigen Erfahrung, machte: vielleicht ist tatsächlich ein
gefühlsmäßiges Erfahren frei von Verstandeselementen möglich?
Oder man sage mit V i c o , die Dichter seien das Gefühlsvermögen
(nicht das Empfinden ohne wahrzunehmen, sondern „das Wahr-
nehmen mit erschütterter und bewegter Seele“, das immerhin nicht
Reflexion ist) und die Philosophen der Verstand des Menschen¬
geschlechts.4) Aber wird es je möglich sein, von Empfindungen zu
sprechen, die nicht in irgendeiner Weise in das Verstandesbewußt¬
sein aufgenommen sind? Sinnesvermögen und Verstand hat man
immer untereinander unterschieden, auch wenn man zugibt — was
man zugeben muß —, daß beide Erkenntnisfunktionen unter¬
einander wesenmäßig verbunden sind.
Wirklich: Wer diese Schwierigkeit ins Feld führt, geht nicht
von der Philosophie des Geistes aus, der die Unterscheidung nach
Stufen der geistigen Formen (die eine waagerechte, nicht senkrechte
Unterscheidung ist) vertraut ist, sondern von der empirischen Er¬
kenntnis, die die Wirklichkeit von oben nach unten schneidet und
sich so vor einer rechten und vor einer linken Sache befindet: zwei
oder vielmehr viele nicht nur unterschiedene, sondern getrennte
Sachen, deren jede für sich allein dasteht oder dazustehen scheint.
Hier „Der rasende Roland“, dort, in geringem Abstand, Pom-
ponazzis „Über die Unsterblichkeit der Seele“. Zwei Werke
des menschlichen Geistes, als wären es zwei Sachen.
Aber die Philosophie weiß, daß, wenn es viele Dinge gibt, es
nicht viele geistige Wesen gibt, und daß man jedesmal, wenn man
zwischen einem Geist und dem anderen, zwischen der einen und
der anderen Abteilung des Geistes einen Schnitt führt, nach kur¬
zem Vorwärtsgehen zu der Einsicht gebracht wird, es fehle jedem
dieser Geister, jeder dieser Offenbarungen der geistigen Wirklich¬
keit etwas von dem, was als der Natur des Geistes wesentlich be¬
trachtet werden muß; vertieft man sich in diese Natur, so ver¬
schwindet schließlich die Mannigfaltigkeit, und was bleibt, ist die
Einheit. Es gibt nicht nur nicht, genau besehen, Dichter und
Philosophen, sondern es gibt auch nicht mehr Dichter oder mehr
Philosophen; denn immer ist es er, der Geist. Und von ihm gibt
es nicht nur nicht mehr vielgestaltige Werke, bald der Kunst und
4) Degn. 53.