Full text: Philosophie der Kunst

Das Dasein der Kunst. 
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gibt, die sie nicht leugnet. Beide Begriffe sind also verbunden, aber 
unterschieden. 
Und die letzte Schlußfolgerung? Sie ist zweifacher Art: 1. die 
Kunst eines Kunstwerkes erschöpft nicht ihren ganzen Inhalt, 
sondern umfaßt nur so viel, wie von dem Kunstwerk bleibt, wenn 
man ihm ideell alles entzogen hat, was Kritik, Überlegung und, 
allgemein gesprochen, bewußter Gedanke ist; 2. dieser Überrest 
ist nur ideell isolierbar, in Wirklichkeit aber ist er mit dem ganzen 
Körper des Kunstwerks verbunden und von ihm untrennbar. 
Die erste Schlußfolgerung zeigt uns, daß eine reine Kunst 
aktuell nicht existiert. Sie ist nicht aktuelles Leben des Geistes, 
sondern tritt in die geistige Aktualität ein, ist dort zu fühlen 
und trägt mit ihrer Gegenwart zu der Verwirklichung des Lebens 
des Geistes bei, das immer, wenn es ist, aktuell ist. Die Kunst 
ist dem Bewußtsein immanent und ihr transzendent wie das 
a priori, mit dem sich die Kantische Philosophie beschäftigt. Sie 
ist nicht Erfahrung, die man leben kann, sondern Transzendental¬ 
prinzip der künstlerischen Erfahrung. Sie beseelt den Körper, aber 
man sieht sie nicht. Was man sieht, ist der beseelte Körper. Liest 
man eine Dichtung, dringt man in die Seele des lebendigen Werkes 
ein, so fühlt man ihr Schwingen, so ahnt man das innere Prinzip, 
das unsere Seele in Bewegung setzt und in uns neu auflebt, aber 
man kann ihm nicht ins Antlitz sehen, es ins Auge fassen, es 
denken, es zum Gegenstand gedachter Erfahrung machen. Es ist 
ein nescio quid, ein deus absconditus, der zugleich gegenwärtig ist, 
der sich unserer bemächtigt, unsere Zunge in Bewegung setzt und 
uns wie jene geheimnisvolle Kraft mit sich schleift, die Träume in 
uns hervorruft, von denen mitunter unser Glauben versucht wird, 
sie als göttliche Enthüllungen oder als wahrhafte mahnende Zeichen 
anzusehen. 
Die zweite Schlußfolgerung zeigt uns die Vergeblichkeit der 
chemischen Analysen, die zum Ziel haben, in den Dichtern oder 
gar in einem und demselben Gedicht Dichtung und Nicht-Dichtung 
zu unterscheiden; als ob man die beiden Elemente wirklich trennen 
und die Dichtung — wenigstens das, was alle unter diesem Namen 
verstehen — finden könnte, wie man ein Salzkörnchen getrennt 
vom anderen am Boden findet. Auch die genauesten und fein¬ 
sten Analysen könnten niemals die Nicht-Dichtung in jedem ein¬ 
zelnen Stück Dichtung feststellen. Alle Analysen setzen im übrigen 
immer, sobald man sie einmal näher ansieht, eine primitive Syn¬ 
these voraus, in der sich das, was als Dichtung unterstellt ist, mit
	        
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