Full text: Philosophie der Kunst

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Die Aktualität der Kunst. 
benen Gesetze der Antigone; diese Grammatik ist im Gehirn jedes 
Menschen, der spricht, deutlicher in dem Gehirn dessen, der besser 
spricht, ausdrucksvoller und wirksamer; sie hält — wenn man so 
sagen darf — die Zunge im Zaume und läßt sie keine unbekannten 
oder von den Zusammenhängen unabhängigen Worte sagen, die die 
Grammatik gut oder schlecht, doch immer mehr gut als schlecht, be¬ 
grifflich bestimmt. Es gibt keinen Naturunterschied zwischen dieser 
ungeschriebenen und lebendigen und jener in den Abhandlungen 
geweihten Grammatik; denn offensichtlich ist die zweite direkte 
Tochter der ersten.2) 
Grammatik, Rhetorik, Ästhetik, Philosophie sind alles Ge¬ 
dankenformen, die gegenüber der literarischen Kunst die Kritik 
schaffen. Und sie sind alle so innerlich mit der sich verwirklichen¬ 
den Kunst verbunden, daß man sie keinesfalls davon trennen 
kann. Uber die Art mag man gewiß streiten; aber der Mißbrauch 
macht auch hier die Abschaffung des Brauches unmöglich, und 
jeder noch so zügellose Schriftsteller zeigt in seinem Werk, daß 
er selbst in seiner Nachgiebigkeit gegenüber seinen Launen und 
Grillen bestimmte ideale Gesetze seiner eigenen Zügellosigkeit 
befolgt. Ein Umstand, der eine Bedeutung hat; er erleuchtet die 
hier angestellten Beobachtungen über die Grenzen, auf die man 
die Analogie der Kunst mit dem Traum beschränken muß. Diese 
Beobachtung aber bringt uns zugleich zu der strengsten Begriffs¬ 
bestimmung der Kunst, die uns in der Untersuchung dessen leiten 
soll, wovon man sagen kann, daß es als Kunst existiere: was der 
Gegenstand dieses Kapitels ist. Wenn die beiden Elemente der 
Kunst und der Kritik untrennbar miteinander verbunden sind, so 
kann man in der Tat nicht umhin einzusehen, daß das nicht be¬ 
deutet, sie seien ideell nicht unterschieden und müßten es nicht 
sein. Denn vermischte man beide Elemente miteinander, so ver¬ 
steht man leicht, daß die Kunst nicht mehr jenes Leben des Geistes 
wäre, dem die Kritik sich zuwendet, und die Kritik könnte nicht 
mehr als ein Reflektieren über die Kunst erfaßt werden: es bliebe 
mit einem Wort nicht mehr zwischen Urteilsgegenstand und Urteil 
oder zwischen Gedanke, der gedacht wird und Gedanke, der ihn 
denkt, jener Zusammenhang, mittels dessen man von Kunst und von 
Kritik spricht. Und von Kritik kann man sprechen, soweit es Kunst 
gibt, und ebenso spricht man von einer Kunst, soweit es eine Kritik 
2) Vgl. die Schrift „Concetto della grammatica“ (1910) in meinen „Fram¬ 
menti di estetica“, Lanciano, Carabba 1920 pp. 179—194.
	        
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