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Die Aktualität der Kunst.
nicht absolut; sie ist idealisiert und umgestaltet. Aber dort, inner¬
halb des unendlichen Traumes, steht die Welt vollständig klar und
bestimmt dem Menschen gegenüber da. So ist in dem Idealen das
Reale wiedererstanden, und der Mensch lebt und denkt und
philosophiert.
10.
Romantik und Klassik.
So ist die Kritik der Kunst immanent: eine bestimmte, wenn
auch zurückhaltende und diskrete Überwachung des freien und
genialen Schaffens des Künstlers; jener „Zügel“ der Kunst, ohne
den es nicht Ordnung, Maß, Harmonie, kurz das gibt, was man im
engsten Sinne Kunst nennt. Seit in den ersten Jahrzehnten des
verflossenen Jahrhunderts die romantische Bewegung im Gegensatz
zu den idealen klassischen Vorbildern, die sich durch die Renaissance
und die daraus entstandenen Kunsttheorien zu herrischen Dikta¬
toren entwickelt hatten und den echten dichterischen Eingebungen
mechanisch ihre Regeln auflegten, den Wert der wirklichen Leiden¬
schaften als Quelle der echtesten und mächtigsten Eingebung
wieder in Ehren gesetzt und gerühmt hatte, pflegt man zwei For¬
men und zwei Kunstarten zu unterscheiden: das Klassische, das
sich mit der Regel und der Reflexion beschäftigt, und das Roman¬
tische, das das ganze Leben und den Wert der Kunst auf das Gefühl
und auf die unbewußte Spontaneität konzentriert. Aber wie es
kommt: waren einmal Klassik und Romantik als strengste Gegen¬
sätze aufgestellt, als antike und moderne Kunst, als archaisierend
und der Moderne zuneigend, den beiden Richtungen entsprechend,
von denen soeben die Rede war, so stellte man nicht unfruchtbare
Untersuchungen über die romantischen Elemente der klassischen
Literatur an; so trat mancher damit hervor, als größtes Wunder
die von ihm gemachte Entdeckung zu verkünden, daß sich in den
größten Romantikern das ganze Wesen der klassischen Kunst als
solches finde. Ich möchte einfach bemerken, daß der größte Ro¬
mantiker Italiens in der wesentlichen Bedeutung des Wortes Man-
z o n i gewesen ist, und in ihm kommen Betrachtung und Selbst¬
kritik der eigenen Eingebung — Manzoni ist zugleich Lyriker von
stärkster Gefühlsgewalt gewesen, den die italienische Dichtung auf¬
weist — bis an die äußerste Grenze: sie wird Ironie.
Tatsächlich nahm man hier und anderswo zur Bezeichnung einer
literarischen Periode oder Richtung oder einer geschichtlichen Tat-