Das Dasein der Kunst.
95
über das Bewußtsein aufhört, Bewußtsein zu sein, kann sich die
Kunst nicht entziehen, wenn man sie erkennen will. Und wenn
inan sie nun wieder erzeugen und damit auf ihre Erkenntnis ver¬
zichten will, so hat sie ihre Bewußtheit; doch im Lichte dieser
Bewußtheit zeigt sie keinerlei Merkmale, auf Grund deren sie
etwas von den kritischen und logischen Formen des Gedankens Ab¬
weichendes sein könnte. Tatsächlich verzichten Künstler von star¬
kem künstlerischen Temperament, die ihre Kunst intensiv leben,
auf jede kritische und philosophische Überlegung und weisen sie
zurück: denn außerhalb dieser Kunst sehen sie nichts anderes:
ewige Träumer. Und die Kritiker und Philosophen, ewige Schlaf¬
lose, werden der Kälte und der ästhetischen Gefühllosigkeit be¬
schuldigt, weil die Form ihres Denkens sie über die Kunst hinaus¬
führt. Empirische und grobe und deshalb notwendig ungenaue
Feststellungen, die doch jenes Körnchen Wahrheit enthalten, das in
dieser wechselseitigen Verneinung zwischen der ästhetischen Wirk¬
lichkeit und der logischen oder kritischen ebenfalls die Kunst be¬
treffenden Wirklichkeit steht.
Entweder Kunst oder Philosophie der Kunst; entweder Träumen
oder Wachsein. In der Welt der Philosophie gibt es keine Kunst,
wie man nicht träumt, wenn man wach ist. Das ginge nicht übel,
wenn die Philosophie jene Bewohnerin des Dachgeschosses wäre,
eine Auffassung, von der wir oben sprachen. Aber sie ist das
Leben jedes Menschen, das sogenannte praktische Leben, auch
ihrerseits dazu bestimmt, sich in der Welt, die die des Philosophen
und nicht die des Künstlers ist, zu entfalten: in der wirklichen Welt,
wo man, wenn man gut tut, etwas wirklich und tatsächlich Gutes
tut, und wenn man schlecht tut, ernsthaft etwas Schlechtes tut, und
in dieser Weise in Berührung mit dem Werke Gottes selbst kommt.
Es ist leicht gesagt: verzichten wir auf die Philosophie und halten
uns an die Kunst. Wenn jeder metaphysische Nebel vollständig zer¬
streut, wenn der Horizont befreit und die Luft klar und durch¬
sichtig geworden ist, wenn der Mensch sich in seinen Traum von
Kunst eingeschlossen hat, da trübt sich plötzlich erneut das Heitere.
Und gerade wenn der Dichter mehr Herr seiner Welt ist, die er sich
schafft, dann erhebt sich vor ihm, in seinem Innern, der Feind, der
Schmerz, der Verrat, der Betrug und der Tod. Da erwacht der
Mensch mitten im Traum, mit seinem Innern, mit seinem Menschen¬
herzen, das im Aufruhr des Lebens lebt, und er kämpft mit den
andern oder mit sich selbst, und er wird überwältigt von dem
Sturm seiner Leidenschaft. Denn die Welt ist nicht vollständig,