Leipzig, 29. Juni 1939
Vielen Dank für Ihren Brief vom 12. Mai und für Ihren Schopenhauer-
aufsatj; ich freue midi sehr, diesen audi als Separatum zu besitzen und
habe ihn noch einmal mit Genuß gelesen.
Daß ich nicht früher sdirieb, hat seinen Grund darin, daß idi in den
letzten Wochen sehr beschäftigt war: ich hatte die englische Übersetjung
der „Alltagsrätsel“ zu revidieren, und wrar von einem Verlag gebeten
worden, die von einem anderen angefertigte deutsdie Übergebung eines
größeren biologisch-sozialen englischen Werkes sachlich und sprachlich
zu verbessern. Beides ziemlidi mühevolle Aufgaben. —
De Broglie’s Werk kenne ich, es hat mich aber von der logischen Zu¬
lässigkeit der neuen Lehren nicht zu überzeugen vermodit. Burkamps
neues Buch kenne ich nicht, habe aber nach dem, was ich sonst von ihm
kenne, den Eindruck, daß er, wie so viele (z. B. Haldane, A. Meyer,
Bertalanffy u. a.), in der Frage des Vitalismus um die Sache herumredet
und den Kernpunkt gar nicht erfaßt hat. Wie so viele, scheut er sich vor
einer klaren Stellungnahme. —
Was nun unser gegenseitiges wissenschaftliches Verhältnis angeht, so
sind wir ja in der Hauptsache einig.
Anders steht es mit meiner Stellung zu Ihrem „Freiheits“-begriff. Wie
ich diesen, d. h. den Ihrigen, auffassen zu müssen glaube, habe ich ja auf
Seite 48 ff. meines Schopeuhauer-Aufsatjes gesagt.
Zulässig ist meines Erachtens der Gebrauch des Wortes „Freiheit“ in
dem Sinne, wie er z. B. in der Phasenlehre verwendet wird. Da bedeutet
er: Möglichkeit der Formen der Veränderung. Diese „Freiheit“ kann
Grade haben.
Aber das Wort „Freiheit“ bedeutet hier nicht Freiheit im Sinne des In¬
determinismus, d. h. der Lehre von der Grund- und Ursachhmgfceit des Ge¬
schehens. Auf diesem Boden gibt es keine „Grade“, sondern nur ein „ent¬
weder oder“.
Nun scheint mir auf anorganischem Boden ein Indeterminismus als letjte,
intime, mikrophysikalische Grundlage unmöglich zu sein, und zwar weil es
allgemeinzugestandenermaßen Makroge&efye in der Physik gibt, mögen sie
auch nur statisch, „wahrscheinlich“ sein. Schon das wäre unmöglich, wenn
auch nur irgendwo im Makrophysikalischen echte Freiheit herrschte. (Hier¬
zu: „Physikalische Gegenwartsfragen“, zumal S. 168—171; der hierzu ge¬
führte Beweis an dem Würfelbeispiel scheint mir zwingend zu sein.)10
Sie selbst fassen doch auch alles Katalytische, gerade weil Sie die Lehre
von den Zwischenreaktionen anerkennen, als durchaus determiniert auf.
Katalyse ist, gerade nach dieser Ihrer Auffassung, durchaus „Chemie“, wenn
auch vielleicht in besonderer Varietät, aber doch sicherlich nicht Nicht-
Chemife.
Aber die sogenannte Freiheit von Heisenberg u. a. ist doch wahrlich nur
Ausdruck eines „Noch-nicht-“ oder vielleicht „Überhaupt-nie-Bestimmen-
19 NB. Recht beachtenswert scheint mir der Aufsat} von E. May „Die Idee der
mechanistischen Naturerklärung und ihre Bedeutung für die physikalische Wissen¬
schaft“ in „Jahrbücher für die gesamten Naturwissenschaften“ 1929, Heft 1.
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