Full text: Hans Driesch

Wissenschaftler zu einem non liquet kommt. Umso leidenschaftlicher 
beschäftigt das Problem Seele und Geist die Gegenwart, und die 
pessimistische Betrachtung ist geneigt, aus der Doppelschichtigkeit 
des menschlichen Seelenlebens, seinem Erleben des Lebens und sei¬ 
nem Geistesleben, sogar eine Gegensätzlichkeit zu machen. Der Geist 
erscheint als Widersacher des Lebens! Ich habe anderwärts die Vor¬ 
würfe gegen den Geist zurückgeführt auf die Vertauschung des 
Wesens des Geistes mit seinen Entartungserscheinungen, des Weges 
des Geistes mit seinen Abwegen und Irrwegen, ja geradezu mit dem 
„Ungeist“. Es ist auch zu eng, dem Geist nur die rationelle und 
Willensseite zuzuweisen, es gibt auch Geistgefühle positiver und ne¬ 
gativer Art; von Frömmigkeit und Gottlosigkeit, Scham und Scham¬ 
losigkeit, von Reue und Verstocktheit, von Hochmut und Haß, von 
Wahrhaftigkeit und Lüge, von Ehre und Ehrlosigkeit, von Ehr¬ 
furcht und Entrüstung und ihren Gesetzen zu reden, hat im rein 
vitalen Bereich keinen Sinn. Und umgekehrt hat das Leben des 
Menschen ohne diese Gefühle keinen menschlichen Sinn. Die Gei¬ 
stesgefühle sind Wertgefühle. 
Der Sinn des Lebens ist das Erleben des Lebens, der Sinn des 
Geistes ist wertende Stellungnahme zum Sein und Leben selbst, 
sein höchster Sinn die Liebe des als liebenswürdig bejahten Wertes. 
Zusammenfassend mögen wir etwa sagen: Während seelisches 
Leben rezeptiv, reaktiv und aktiv nur im Dienste des Lebens ist, ist 
Geist das bewußte und aktive Prinzip, bald auf clas eigene Subjekt 
bezogen, bald hinausgreifend über die Lebenssphäre schlechthin. 
Man darf nicht einwenden, daß Geist für sich und in der Wirklich¬ 
keit nicht gegeben ist; auch Leben ist uns ja für sich nicht gegeben 
und doch sprechen wir von dem Reich des Lebens als der höheren 
Stufe gegenüber dem Reich der Materie; aktualisiert ist dieses Reich 
in den Lebewesen wie der Geist im Menschen. Man darf auch nicht 
einwenden, daß analogische Anklänge an das geistige Sein auch auf 
der Stufe höherer Tiere gelegentlich fühlbar werden, denn sie ver¬ 
wischen den Unterschied ebensowenig wie die angenommene „Be¬ 
seelung“ auch der physikalischen Elemente und Gestalten die Kluft 
zwischen diesen und der Welt des Lebens überbrücken. Und endlich, 
nicht zuletjt: Die Betrachtung der Wirklichkeit wäre ja völlig mi߬ 
verstanden, wenn unterstellt würde, daß die Stufen als selbständig 
nebengeordnete Reiche gemeint seien. Wie clas Ideal des Lebens 
eine Durchdringung der leiblichen Substanz durch Entelechie und 
Seele wäre, so wäre das Ideal des menschlichen Seelen- und Geistes¬ 
lebens eine Durchdringung und Verschmelzung, ein Übergehen des 
wertenden Prinzips „in Fleisch und Blut“, ein Aufgehen des Lebens 
im Dienst der Werte, eine Vereinigung, in der die Seele dem Geist 
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