«Ein Vergehen,» sagt er, «ist eine Tat, aus der
Übel entsteht; da nämlich das Gesetz für eine Hand¬
lung eine Strafe vorsieht, erwächst daraus ein Übel.»
Demnach kann das Gesetz eine Strafe dafür fest¬
legen, dass ich meinem Vater das Leben rette oder
dass ich ihn dem Henker ausliefere. Wird das ge¬
nügen, um aus der kindlichen Liebe ein Vergehen
zu machen? So scheusslich uns auch dieses Beispiel
vorkommt, es ist keine leere Annahme. Hat man
nicht im Namen des Gesetzes Väter verurteilt, weil
sie ihre Kinder gerettet, und Kinder, weil sie ihren
Vätern geholfen haben?
Bentham bedient sich eines Vergleichs, der sehr
geeignet ist, diese Frage zu erhellen. «Obwohl ge¬
wisse Taten unschuldig sind,» sagt er, «werden sie
unter die Vergehen eingereiht, gleich wie bei einigen
Völkern gesunde Nahrungsmittel als Gift gelten.»
Daraus folgt doch: so wenig der Irrtum jener Völ¬
ker diese zuträglichen Lebensmittel in Gift verwan¬
delt, so wenig verkehrt der Irrtum des Gesetzes die
unschuldigen Handlungen in Vergehen. Wenn man
vom Begriff des Gesetzes spricht, so nimmt man es
ohne weiteres für das, was es sein soll; wenn man
sich dagegen mit dem beschäftigt, was es ist, so fin¬
det man einen grossen Unterschied: daher rühren
die ständigen Widersprüche in den Staatslehren und
Ausdrücken.
Bentham hat in seinem Gesetzgebungssystem voll¬
ständig von der Natur absehen wollen; er hat nicht
bemerkt, dass er den Gesetzen gleichzeitig ihre Be¬
stätigung, ihre Grundlage und ihre Grenze entzog.
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