1. Gegenstand, Prinzipien und Ziele dieses Buches
Zum Untersuchungsgegenstand
Über die saarländische Geschichte zwischen 1945 und 1960 zu schreiben, heißt,
einen ebenso facettenreichen wie in der kollektiven Erinnerung bis zur Gegenwart
präsenten Gegenstand aufzugreifen. „Der Dicke muß weg!“, „Ausweisungen“,
„Annexion“, „preisgünstiger Cognac“ - jene Vielzahl oft widersprüchlicher Sym¬
bole steht für eine besonders geschichtsträchtige Periode. Wie lebendig dieser Zeit¬
abschnitt bis heute geblieben ist, zeigt sich daran, dass schon wenige dieser Schlag¬
wörter genügen, um im Saarland leidenschaftliche Diskussionen hervorzurufen und
vermeintlich vergessene Fronten neu aufleben zu lassen. So könnte ein auswärtiger
Beobachter beinahe den Eindruck bekommen, als ginge der Streit über das - im
Referendum von 1955 abgelehnte - europäische Statut bis heute wie ein Riss durch
Dörfer, Vereine und Familien. Das vorliegende Arbeitsbuch soll diese spannende
Geschichte dokumentieren, den Leser anhand historischer Quellen zum Nachden¬
ken und Überprüfen eigener Interpretationen anregen und gleichzeitig in die diffe¬
renzierten Ergebnisse der neueren Saarforschung einführen.
Die besondere Entwicklung des Saarlandes zwischen 1945 und i960 ist nur ver¬
ständlich, wenn man sie als Teil der wechselvollen Geschichte des gesamten saar¬
ländisch-lothringischen Grenzraumes seit dem 18. Jahrhundert sieht. An der Kreu¬
zung zweier völlig unterschiedlicher Wege zur Nationalstaatsbildung wurde die
Region der mittleren Saar - spätestens seit der Französischen Revolution - immer
wieder zur Spielwiese oft kriegerisch ausgetragener Konflikte zwischen Deutsch¬
land und Frankreich. Anders als zum Beispiel Luxemburg blieb der Saar eine
eigenständige Staatsgründung verwehrt. Statt dessen blieb die Region Untertan -
und Aufmarschgebiet - wechselnder Vaterländer, wurde politisch, administrativ
und infrastrukturell mehrfach zerteilt und erlangte deshalb über das 19. Jahrhundert
hinweg auch keine kulturelle Einheit. Die „Saarfrage“ hatte ihre Wurzeln also in
einem mehr als hundert Jahre alten Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich
um die territoriale und nationale Zugehörigkeit dieses Landes.
Zusätzlich angeheizt wurde dieser Konflikt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
durch die besonders rasche industrielle Entwicklung der an Bodenschätzen reichen
Region. Neue Waffentechnik und neue Methoden der Kriegsführung ließen die
militärisch-strategische Rolle der Region und einzelner Befestigungsanlagen - wie
beispielsweise der Stadt Saarlouis - gegenüber ihrer ökonomischen Bedeutung
zurücktreten. Mitunter fanden die alten territorialen Konflikte auf wirtschaftlicher
Ebene eine neue Form. So setzte die preußische Grubenverwaltung ihre Interessen
in der Region rücksichtslos durch und deutsche Unternehmer etablierten sich an
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