Full text: Die Berliner Herpin-Handschrift in der Staatsbibliothek zu Berlin (Ms. Germ. Fol. 464)

Hände veranschaulicht. Neben der Tür steht die bereits frei gelassene Florie. 
In einer kargen Tandschaft hänseln gwei Jungen die Herzogin. Der eine Junge packt sie am Gewand, 
der andere hält einen Stock gum Schlagen bereit, begleitet werden die Kinder von gwei kleinen, Hdelheid 
ankläffenden Hunden. Die Herzogin, auf einen Stock gestützt, ermahnt mit erhobenem Finger. Oberhalb 
steht klein „ nar‘oi"' geschrieben. 
4.4. Die Abenteuer Lewes 
Nachdem die Herzogin im Wald von den Räubern entführt worden ist, erscheinen dem 
Säugling Lewe vier Feen (im Text: Wünschelfrauen) y>1 auf der Lichtung, die den Säugling 
aus dem Seidentuch wickeln und das rote Kreuz an seiner Schulter entdecken.162 Die erste 
Fee prophezeit ihm ein großes Reich und dass er weder durch Kampf noch durch wilde 
Tiere Schaden erleide. Die zweite verheißt ihm Kühnheit, die dritte weissagt, dass er Leid 
erdulde, bevor er gesellschaftliches Ansehen erlange und die vierte sagt ihm ein König¬ 
reich voraus. Nach den Verheißungen, die dem Kind die Rückeroberung des Erbes pro¬ 
phezeit, verschwinden die Frauen. Ihre Wünsche sind das Programm für den Lebensweg. 
Wenig später nähert sich eine wüde Löwin, die sich des Kindes annimmt und die erste 
Prophezeiung erfüllt sich bereits. Sie trägt ihn im Maul in ihre Höhle, in der sie den Säug¬ 
ling als ihr Junges akzeptiert (Bl. 9r+v).360 363 
(Bl. 9r/Abb. 4): Die Illustration wird im Hintergrund durch einen dichten Wald aus Taub- und 
Nadelbäumen begrenzt. Die Waldlichtung im Vordergrund ist durch eine Buschreihe in gwei Komparti¬ 
mente geteilt. Im linken Bildteil stehen die vier Feen in bodenlangen Kleidern vor der Buschreihe und bli¬ 
cken auf den am Boden liegenden nackten Säugling. Die links vom Bildrand angeschnittene Figur der Fee 
wendet sich bereits vom Geschehen ab. Die anderen drei Frauen unterstreichen ihre Prophezeiungen ges- 
tisch: Die eine hebt die rechte Hand, die mittlere faltet ihre Hände wie gum Gebet und die Hände der 
dritten sind von den beiden Frauen überdeckt. Im rechten Bildfeld liegt auf dem steinigen Boden der nack¬ 
te Säugling dessen Erkennungsmerkmal, das Kreug auf seiner Schulter sichtbar ist. Die Töwin, die ihn 
aufnimmt, leckt ihn ab. 
Der Ritter Balduin von Monclin, der mit seinem Gefolge auf der Jagd ist, erreicht die 
Höhle der Löwin. Diese greift die Eindringlinge an, um den Säugling zu schützen. Die Jä¬ 
ger und Jagdhunde bedrängen die Löwin solchermaßen, dass sie in die Höhle flieht. 
Balduin beauftragt seine Jäger, in dieser nach einem Löwenjungen zu suchen. Stattdessen 
finden sie zu ihrer Überraschung ein Menschenkind. Als der Löwin der Säugling wegge¬ 
nommen wird, beginnt sie so lange wild zu kämpfen, bis sie erschöpft zusammenbricht. 
360 Diese Beischrift auf Abb. 15 ist die einzige Beschriftung in den ausgeführten Zeichnungen. 
361 Die Wünschelfrauen sind Wunder aus einer fremden Welt (VON BLOH 1997, S. 226 und S. 230) und sie 
weissagen die Zukunft (WOLFZETTEL 1984, Sp. 948: Hier wird die Wünschelfrau als Schicksals- oder 
Gabenfee bezeichnet). 
362 Das Motiv des im Wald ausgesetzten Säuglings ist bei Lewes Sohn Ölbaum in Variation wiederholt. 
363 Der Löwe gilt seit der Antike als das gefährlichste Tier, das jedoch zugleich mit Kühnheit, Großmut so¬ 
wie mit dem Bösen gleichgesetzt wurde. Zur Symbolik und dem Verhalten des Löwen vgl. ZlPS 1968, 
S. 507-518; VON BLOH 1994, S. 513-542, bes. S. 519-521; BLOCH 1971, Sp. 112-119 und BAUTZ 
2004/2005, Sp. 228f. und 234-238. Zum Motiv der Löwenmilch vgl. TAUBE 1996, Sp. 1232-1234. 
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