7. Motivische und stilistische Einordnung
Die vermehrt seriell produzierten Handschriften des 15. Jahrhunderts führten zu neuen
Formen der Illustration: Hier fand ein effektiver Rückgriff auf Werkstattformeln, chiff-
renhafte Bildmotive und stereotypen Vorlagen statt, aus denen die Illustratoren schöpfen
konnten. "'4 Hierin lassen sich auch eine geschmackliche Nebenwirkung der Reproduzier¬
barkeit und künstlerischen Grenzen der zeitgenössischen Druckgraphik erkennen. Durch
die Neuerung der Reproduktionstechniken war nun eine identische Wiederholung von
Bildformeln möglich. Die Situation einer dürftigen Quellenlage und einer hohen Verlust¬
rate an Werken macht dennoch eine Stilkritik unentbehrlich. An Grenzen der Werkstatt¬
konventionen stößt die Frage nach der Händescheidung, mit der somit vorsichtig und
kleinteiüg hantiert werden muss. Mit vergleichbaren Motiven zu argumentieren, zeigt den
Großzusammenhang, die Übereinstimmung. Bei jedem einzelnen Vergleich bleibt aber ei¬
ne Ungewissheit, ob eine direkte Kausalbeziehung zwischen den verglichenen Werken be¬
stand oder ob das Rezeptionsverhältnis über Zwischenglieder oder Einwirkung eines un¬
bekannten Werkes verlief. So kommt es, dass viele Fragen nur in der Summe der Kleinar¬
gumentation beantwortet werden können oder sich daraus eine mögliche Werkstattzuge¬
hörigkeit abzeichnet.
Nur sehr wenige sonstige Werke können dem Künstler der Berliner Illustrationen zuge¬
schrieben werden. Das erschwert eine exakte stilistische Einordnung und erlaubt lediglich
ein unscharfes Bild des Zeichners und seines Umfeldes zu skizzieren. Die zwölf Deckfar¬
benminiaturen der für den Text nicht relevanten französischen Vorlage (Paris, Bibliothèque
Nationale de France, ms. fr. 351) stehen der burgundischen Handschriftentradition nahe,558 559
hatten jedoch keine erkennbare künstlerische Wirkung auf den deutschen Illustrator.
Die enge Beziehung der deutschen Herpin-Zeichnungen zur Druckgraphik dieser Zeit
ist offensichtlich.46' Die Entstehung des Berliner Codex fällt in eben jenes halbe Jahrhun-
dert, als Handschrift und gedrucktes Buch nebeneinander existierten und es zu Wechsel¬
beziehungen zwischen deren Bebilderungsweisen kam.4"1 Die Angleichung der graphisch
angelegten Zeichnungen des Berliner Herpin-Codex an den Kupferstich erforderte hohes
künsderisches Raffinement.462
Der nordbairisch-ostfränkische Dialekt, das Wasserzeichen, der Schriftduktus und die
motivische Verwandtschaft zu den graphischen Werken eines Martin Schongauer oder ei¬
nes Wolfgang Beurer und auch zur Nürnberger Tafelmalerei weisen nicht, wie Ignaz Beth
behauptete, auf einen Rheinfranken in der Gegend um Ulm hin,563 sondern auf einen
558 Hierzu HESS/MACK 2010, S. 285-288; ROTH 2011, S. 353-371; KEMPERDICK 2009, S. 95-115, bes.
S. 95-102; OTT 1984, S. 357.
559 Vgl. die zwölf Abbildungen und das Digitalisai der gesamten Handschrift unter:
http://gallica.bnf.fr/ark:-/12148/btvlb9060020q/fl.image.r=lion+de+bourges.langFR (zuletzt zuge¬
griffen am 12.01.2012, um 12:17 Uhr).
560 Sie wurde schon 1908 von Ignaz Beth konstatiert; WOLF 2000, S. 9.
561 Ott 1995, S. 102-105; Ott 2001, S. 21-29 und Augustyn 2003, S. 5-47.
562 Vg| hierzu Schmidt 2007, S. 380,
563 BETH 1908, S. 273f. Die Einzelstempel des Bucheinbandes hingegen weisen auf eine Werkstatt in oder
129