Full text: Die Berliner Herpin-Handschrift in der Staatsbibliothek zu Berlin (Ms. Germ. Fol. 464)

Stilrichtung des weichen Stils hin, aber die harten Gewandfalten, die modischen Neuerun¬ 
gen und der graphische Zeichenstil veranschaulichen die künsderische Weiterentwicklung 
des Illustrators. 
5.3. Identitätswechsel durch Kleidung 
In der mittelalterlichen Gesellschaft transportierten bestimmte Kleider in ihrer symboli¬ 
schen Wirkung nicht nur den sozialen Status einer Person, sondern auch deren ge¬ 
schlechtliche Zugehörigkeit. Insgesamt drei Beispiele sind im Berliner Codex zu finden, in 
denen die für das männliche oder weibliche Geschlecht charakteristischen Kostüme aus¬ 
getauscht werden, um durch den Identitätswechsel ein bestimmtes Ziel zu erreichend 1 
Die Verweisfunktion der Kleidung verdeutlichte im Mittelalter, welchem Stand eine 
Person angehörte. Somit wurde durch den Kleidertausch nicht nur die Identität, sondern 
gegebenenfalls auch der soziale Status geändert/24 Beispielsweise tauscht Lewe die Klei¬ 
dung mit einem Pilger und erhält von diesem Ratschläge, wie er sich als Pilger zu verhal¬ 
ten hat, damit er Florentine in Rige aufsuchen kann.525 Für seinen vollkommenen Identi¬ 
tätswechsel sind die für einen Pilger typischen Kleider verantwortlich: Als solcher trägt er 
den kennzeichnenden Hut mit hoch aufgeschlagener Krempe, an der ein Pilgerzeichen 
angebracht ist, eine Gugel, einen halblangen Pilgermantel und einen Pügerstab mit run¬ 
dem Knauf.326 Durch die Verkleidung und den damit einhergehenden Identitätswechsel 
überschreitet Lewe „die Grenzen zum Anderen, [...], die seinen angestammten Aktions¬ 
radius überschreiten.“"12 Seine Verwandlung ist in dem Moment vollständig vollzogen, in¬ 
dem Florentine ihren Geliebten nicht mehr identifizieren kann. Erst nachdem er sich ihr 
offenbart, erkennt sie seine wahre Identität. 
Im 12. Jahrhundert gab es Anzeichen für einen Wechsel von Geschlechteridentitäten, 
doch wurde dieser Wandel erst in der Literatur des 13. Jahrhunderts ausgearbeitet.325 Bei 
diesem Identitätstausch spielt die geschlechtliche Differenzierung und das gleich- und ge¬ 
gensätzliche Begehren eine Rolle."129 „Im Falle der Travestie wird das karnevaleske Ele- 
523 Andreas Kraß unterscheidet drei unterschiedliche Verkleidungsarten: Die Maskerade dient der ständi¬ 
schen Identität, mit der Travestie ist die geschlechtliche Identität gemeint und durch Kleidertausch kann 
die persönliche Identität gewechselt werden (KRASS 2006, S. 25; zur Maskerade S. 232—269, Travestie 
S. 270—308 und zum Kleidertausch S. 309—337). 
524 Zum Identitätswechsel durch Kleidertausch in der Literatur vgl. KRASS 2006, S. 232—269; FEISTNER 
1997, S. 235-260; FEISTNER 1996, S. 257-269 und WEHSE 1987, Sp. 168-186, bes. Sp. 178 und 181. 
Zum Moüv der als Mann verkleideten Frau: LOSERT 2005, bes. S. 67—81, PETERS 1999, S. 284—304, bes. 
297f. 
525 Vgl. Berlin, Ms. germ. fol. 464, Bl. 127v— 133v. Auch Tristan verkleidet sich als Pilger, damit das Liebes¬ 
verhältnis zu Isolde beim Gottesurteil nicht entdeckt wird. Nur der verkleidete Tristan darf Isolde vom 
Schiff tragen, so dass Isolde beim Gottesurteil den Schwur leisten kann, ohne Lüge und ohne Preisgabe 
ihres Verhältnisses zu Tristan (auch zu weiteren Verkleidungen Tristans vgl. FEISTNER 1996, S. 257— 
259). 
526 Zur Pilgerkleidung siehe KüHNEL 1992, S. 196-198; BRÜCKNER 1990, Sp. 440f.; Liebl 1993, Sp. 2150f., 
bes. Sp. 151; Kania 2010, S. 117; Hundsbichler 31986, S. 238f.; Praschl-Bichler 2011, S. 96. 
527 Krass 2006, S. 232. 
528 Krass 2006, S. 31 und 270. 
529 Krass 2006, S. 31. 
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