Von einer allgemeinen Kriegseuphorie konnte trotz einer gewissen Aufbruchstimmung
nicht die Rede sein.288 In der Arbeiterstadt Neunkirchen schienen die sozialen Proble¬
me, die der Krieg mit sich bringen konnte, ein Stück weit antizipiert worden zu sein.
Besonders die Ernährungslage gestaltete sich von Beginn an schwierig.289 Am io. Ja¬
nuar 1915 trug der Hüttenmeister Rudolf Grenner in sein Tagebuch ein: „Die Folgen des
Krieges werden immer mehr gespürt. Zuerst gab es fast nur Papiergeld. Jetzt geht es um,
daß etwa 20 % Kartoffeln im Brot verbacken werden. Das Weizenmehl wird so langsam
alle [...]!‘290 Bereits im Februar 1915 musste das Brot streng rationiert werden. Die Ver¬
teilungwurde vom Kommunalverband des Landkreises Ottweiler koordiniert, der dann
auch sogenannte Brotbezugsbücher einführte. Die Situation verschlechterte sich im
Laufe des Jahres 1916. Ende dieses Jahres waren verschiedenste Lebensmittelkarten, äuße¬
rer Ausdruck der kriegsbedingten Mangelwirtschaft, im Umlauf: Es gab unter anderem
Brot-, Kartoffel-, Zucker-, Fleisch-, Milch- und Eierkarten, daneben auch Bezugskarten
für Schuhe und Kleidung. Eine Sonderzulage gab es für Schwerstarbeiter in den kriegs¬
wichtigen Industrien, also auch im Hüttenwerk. Einen ersten Kulminationspunkt erfuhr
die prekäre Ernährungslage im sogenannten ,Steckrübenwinter‘ 1916/17. Die Nahrungs¬
mittel wurden immer knapper, außerdem qualitativ zusehends minderwertiger und über¬
dies teurer. Rudolf Grenner beschreibt die Preisentwicklung: „[...] vor dem Kriege kostet
unser Mehl, das viel besser war 17 Pfg. das Pfund, jetzt muß man sich klug schicken, um
überhaupt zu bekommen. Bei Ruffing [ein örtlicher Bäcker, F. T.] kostet das Pfd. 75 Pfg.
[..,].“291 Brot musste bisweilen mit Sägemehl gestreckt werden, während sich in vielen
Haushalten der Speiseplan auf Steckrübengerichte beschränkte. Außerdem herrschte in
diesem Winter eine Kältewelle mit Temperaturen im zweistelligen Minusbereich.
Nachdem diese äußerste Krisensituation wenigstens in ihren derbsten Ausmaßen
überstanden war, spitzte sich die Lage noch einmal im Sommer und Herbst 1918 be¬
drohlich zu. An Grundnahrungsmitteln wie Brot, Kartoffeln oder Fett herrschte Man¬
gel. Ein Ei gab es lediglich alle 14 Tage. Im Herbst schließlich breitete sich eine Grippe¬
epidemie aus, die durch die schlechte Ernährungslage noch verschärft wurde und einige
Todesopfer, zeitweise zehn bis zwölf täglich, kostete.292 Die soziale Lage Neunkirchens,
die sich in der Ernährungssituation sehr plastisch spiegelte, war insgesamt äußerst pre¬
kär. Die Neunkircher Einwohner versuchten sich zum Teil durch ,Butterfahrten‘ aufs
Land zu behelfen, wo man zu überteuerten Preisen landwirtschaftliche Produkte wie
Butter, Mehl oder Eier besorgen wollte. Hüttenmeister Grenner erwähnt gleich meh¬
rere solcher Touren, die ihn vor allem in die bayerischen Nachbargebiete führten. Sehr
plastisch schildert er am 28. Juli 1917: „Der Verkehr der fälschlich genannten Hamster
war so stark, daß man nur gezwungen reiste. Speciell die Wagen der 4ct" Klasse standen
2Si! Vgl. auch Sander 2005, S. 297; Sander 2012, S. 206 f.
lm Vgl. im Überblick ebd., S. 298-301.
290 Zitiert nach Labouvie (Hrsg.) 2001, S. 318.
291 Zitiert nach ebd.
292 Vgl. Stadtverwaltung Neunkirchen (Hrsg.) 1955, S. 126 ff; Krajewski 1981, S. 45.
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