turen110 der Hüttenarbeiter hinterfragt werden (Kap. III). Besonders die zahlreichen
bislang nahezu unerschlossenen betrieblichen Dokumente liefern aufschlussreiche Er¬
kenntnisse über die Arbeitswelt aut der Hütte. Die Schwierigkeiten, welche eine Analyse
der Arbeitswelt in zentralisierten Großbetrieben während der Industrialisierung aller¬
dings mit sich bringt, umreißt Lothar Machtan in einem Beitrag über das „Innenleben
deutscher Fabriken im 19. Jahrhundert“:
„Es soll nicht verschwiegen werden, daß es auch für den späteren Betrachter keineswegs ein¬
fach ist, in den sorgfältig abgeschirmten Bereich der industriekapitalistischen Produktion
vor rund hundert Jahren einzudringen. Hoffnungslos erscheint ein solches Unternehmen
indessen nicht; vorausgesetzt, man ist bereit, sich auch mit scheinbaren Kleinigkeiten und
Nebensächlichkeiten zu befassen, die beileibe nicht um ihrer selbst willen untersucht werden,
[...] sondern als die Mosaiksteine, aus denen sich das Bild [...) im historischen Betriebsalltag
zusammensetzt.“111
Ein grundlegendes Problem neben der hier betonten Lückenhaftigkeit der Überliefe¬
rung besteht darin, dass sämtliche betriebsinternen Dokumente aus der Sicht der Unter¬
nehmensleitungverfasst wurden, mithin dass die Perspektive der Arbeiter zunächst nicht
berücksichtigt wird. Überhaupt fehlen von den Arbeitern selbst produzierte Quellen,
etwa Tagebücher, Briefe oder sonstige Ego-Dokumente, nahezu gänzlich.112 Gleichwohl
110 Zum Konzept des „Arbeiterbewusstseins“ und den darauf einwirkenden Einflussfaktoren vgl. Neu¬
endorff, Hartmut: Arbeiterbewußtsein, in: Kerber, Harald/SCHMIEDER, Arnold (Hrsgg.): Hand¬
buch Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen, Reinbek 1984, S. 40-44; Kern, Horst/
Schumann, Michael: Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein. Eine empirische Untersuchung über
den Einfluß der aktuellen technischen Entwicklung auf die industrielle Arbeit und das Arbeiterbe¬
wußtsein, Teil I (Wirtschaftliche und soziale Aspekte des technischen Wandels in der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. 8), Frankfurt a.M. N973. Das Konzept eignet sich wohl als Hilfsmittel, bewegt sich
aber teilweise in einer Grauzone. In jedem Falle aber ist man auf Hypothesen angewiesen, da „Bewusst¬
sein“ nicht direkt messbar ist. Für Historiker gilt dies, im Gegensatz zu Industriesoziologen, umso mehr,
da man auf die Werksüberlieferung angewiesen ist und keine direkten Erhebungen etwa mittels Frage¬
bögen durchführen kann. Ulrich Zumdick bringt diese grundlegende Problematik einer historischen
Industriesoziologie auf den Punkt: „Für den Historiker [...] ergibt sich die Schwierigkeit, daß er im
Unterschied zu Soziologen die Arbeitsprozesse nicht beobachten kann und das zur Verfügung stehende
Quellenmaterial einen begrenzten Aussagewert besitzt. So fehlen Selbstaussagen von Arbeitern fast
völlig!“ Siehe Zumdick 1990, S. 2.5.
111 Machtan, Lothar: Zum Innenleben deutscher Fabriken im 19.Jahrhundert. Die formelle und in¬
formelle Verfassung von Industriebetrieben, anhand von Beispielen aus dem Bereich der Textil- und
Maschinenproduktion (1869-1891), in: Archiv für Sozialgeschichte 21 (1981), S. 179-236, hier S. 186.
112 Aus der Arbeiterschaft selbst stammende Zeugnisse sind generell äußerst selten. Lediglich die Funk¬
tionäre der politischen Arbeiterbewegung, die ihrerseits nicht selten Handwerker oder gut ausgebildete
Facharbeiter und somit nicht unbedingt repräsentativ waren, hinterließen des Öfteren Ego-Dokumente.
Diese wiederum waren tendenziös gefärbt, dienten sie doch vor allem der politischen Apologie, indem sie
den eigenen geistigen Werdegang referierten. Zur Quellenproblematik in der Arbeitergeschichtsschrei-
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