liehe und handwerkliche Existenz am Vorabend der Industrialisierung war oft überaus
ärmlich, während die Fabrik, bei allen Zumutungen, einen sicheren Lohn und eine ma¬
terielle Versorgung wenigstens auf Zeit bot.48 Erst der Eintritt in die Fabrik ermöglichte
nicht selten grundlegende biographische Entscheidungen wie eine Eheschließung oder
die Gründung einer Familie.1*9
Durchschnittslöhne sind generell schwer lestzustellen, da geschlossene Datenrei¬
hen oft fehlen, deren Auswertung wiederum einer eigenen Studie bedürfte. In der Ar¬
beitsordnung des Neunkircher Eisenwerks werden keine Zahlen, sondern lediglich die
Modalitäten der Lohnzahlung erörtert. Lohn gab es einmal im Monat, zusätzlich einen
einmaligen Abschlag. Zeit- und Akkordlohn existierten parallel, und zwar deshalb, weil
einzelne Verrichtungen nicht im Akkord, das heißt auf Grundlage von produzierten
Stückzahlen, berechnet werden konnten.'’" Nicht selten wurden Löhne ergänzt durch
Gratifikationen, Prämien und ähnliche Zusatzzahlungen.51 Somit konnte das Prinzip
der Leistungsentlohnung, das so wichtig war für die Durchsetzung des industriekapi-
talistischen Fabriksystems, auch bei weiterhin erfolgender Zeitentlohnung angewandt
48 Hier soll noch einmal die Dorfchronik des Ortes Bierbach bemüht werden, wo es viel sagend heißt:
„[...] aber immerhin kommt .Geld ins Haus“. Ein Gulden ist der Schichtlohn anfangs, ein Thaler in
den 1890er Jahren. Es ist immerhin viel mehr als das Einkommen eines Taglöhners. Und der Arbeiter
hatte vordem Krieg [Erster Weltkrieg] eine einigermaßen gesicherte Existenz. Es war ihm möglich, ein
Haus zu bauen, Land anzuschaffen und eine Kuh zu halten.“ Siehe Stadt Blieskastel Stadtteil
Bierbach (Hrsg.) o.J., S. 283. Die Mühsal der Arbeiterexistenz wird nicht verschwiegen, aber man
unterstreicht das materielle Vorankommen, das die Fabrikarbeit und der regelmäßig erhaltene Lohn
ermöglichen. Die Überschrift des Kapitels, aus dem das Zitat entnommen wurde, lautet recht bezeich¬
nend „Die bessere Zeit“, welche dem vorindustriellen Pauperismus positiv gegenüber gestellt wird. Sie¬
he ebd., S. 282. Wenn beispielsweise Margrit Grabas von der „in bitterster Armut lebende[n] Masse an
Lohnarbeitern“ spricht, so ist dies zu differenzieren. Wohl musste der industrielle Fabrikarbeiter mit
zahlreichen Zumutungen fertig werden, wohl war er bisweilen in Krisenzeiten oder im Alter von Exis¬
tenzgefährdungen bedroht; allerdings bezog er, im Gegensatz zu vielen Vertretern der vorindustriellen
Unterschichten, ein regelmäßiges Einkommen und nicht selten auch betriebliche Sozialleistungen. Ge¬
rade die sogenannten Stammarbeiter waren sicherlich nur selten von Verelendungstendenzen betrof¬
fen, Zitat: Grabas, Margrit: Individuum und Industrielle Arbeit, in: Dülmen, Richard van (Hrsg.):
Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln
2001, S. 331-359, hier S. 351.
4 ) Klaus Tenfelde weist darauf hin, dass „die städtischen Unterschichten, besonders die Arbeiterklasse,
an der Verbreitung familienförmiger Existenzweisen überproportional beteiligt waren“. Siehe Tenfel¬
de, Klaus: Arbeiterfamilie und Geschlechterbeziehungen im Deutschen Kaiserreich, in: Geschich¬
te und Gesellschaft 18 (1992), S. 179-203, hier S. 183. Die proletarische Ehe glich dabei i.d. R. einer
Zweck-, weniger einer Neigungsgemeinschaft. Vgl. ebd., S. 198. Die Gründung einer Ehe bedurfte aber
wenigstens eines Mindestmaßes an Existenzsicherheit, das die Landwirtschaft oft nicht mehr, die Lohn¬
arbeiterexistenz durch regelmäßige Einkünfte aber schon versprach.
50 Allgemeine Arbeitsordnung NE 1892, S. 8 f.
41 Die Diidelinger Stammlisten von 1924 enthalten Rubriken für verschiedene Gratifikationen, die
monatsweise oder einmalig ausgezahlt wurden, außerdem für Betriebsprämien, Teuerungs- und Extra¬
teuerungszulagen. Siehe dazu AnLux, ADU-U1-130.
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