meinen Arbeitergeschichtsschreibung wurden in diesem Zusammenhang immer wieder
die sogenannten ,Ruhrpolen1 als Paradebeispiel angeführt. In seinem Standardwerk zur
Ruhrbergarbeiterschaft zeichnet Klaus Tenfelde den Zuzug polnischer und masurischer
Arbeitskräfte seit den 1880er Jahren nach und betont deren „isoliertes Gruppenverhal-
ten“, das durch die Sprachbarriere, aber auch durch unterschiedliche „Lebenshaltung
und Gewohnheiten“ begründet worden sei.396 Ähnliche Befunde förderten etwa Valen¬
tina-Maria Stefanski39 für die polnischen oder René dcl Fabbro398 für die italienischen
Zuwanderer im wilhelminischen Deutschland zu Tage. Fernwanderung führte generell,
so lässt sich resümieren, zu einem Prozess nationaler wie soziokultureller Diversifizie¬
rung und Segmentierung, der den Prozess einer Klassenbildung auf sozioökonomischer
Basis überlagern, wenn nicht sogar blockieren konnte.399
Soziokulturelle Gräben innerhalb neu entstehender Arbeiterpopulationen konnten
sich aber auch auftun, wenn Fernmigration keine große oder überhaupt keine Rolle
spielte. Im Zuge der demographischen Verschiebungen und Umbrüche der Industria¬
lisierung fanden auch Prozesse der konfessionellen Umschichtung statt. Das Saarrevier
darf hier durchaus als paradigmatisch gelten, wurde dort doch in vielen entstehenden
Industriegemeinden die eingesessene protestantische Einwohnerschaft bald von den zu¬
wandernden katholischen Arbeitermassen zahlenmäßig überflügelt. Dies war etwa in
Malstatt-Burbach der Fall, das seit 1909 Teil der neuen Großstadt Saarbrücken war.400
Die erwähnten Migrationsfolgeerscheinungen - bleibende ländlich-agrarische Ver¬
ankerung, nationale wie soziokulturelle Diversität sowie konfessionelle Prägung - lassen
396 Tenfelde, Klaus: Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert (Schrif¬
tenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bd. 125), Bonn 1977, S. 246. Einen Über¬
blick über weitere Studien, die sich dieser Thematik annehmen, findet sich bei Crew, David: Class
and Community. Local Research on Working-Class History in Four Countries, in: Tenfelde, Klaus
(Ffrsg.): Arbeiter und Arbeiterbewegung im Vergleich (Historische Zeitschrift:, Sonderheft 15), Mün¬
chen 1986, S. 279-336, hier S. 319-323.
39 Stefanski, Valentina-Maria: Zum Prozeß der Emanzipation und Integration von Außenseitern:
Polnische Arbeitsmigranten im Ruhrgebiet (Schriften des Deutsch-Polnischen Länderkreises, Bd. 6),
Dortmund 1984, bes. Kap. 4; Stefanski, Valentina-Maria: Von „Zuzüglern und Störenfrieden“.
„Gastarbeiter“, in: Ruppert, Wolfgang (Hrsg.): Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur von
der Frühindustrialisierung bis zum „Wirtschaftswunder“, München 1986, S. 84-92, bes. S. 85-89.
398 Del Fabbro, René: Wanderarbeiter oder Einwanderer? Die italienischen Arbeitsmigranten in der
Wilhelminischen Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), S. 207-229, hier S. 224-227;
Del Fabbro, René: Italienische Wanderarbeiter im Wilhelminischen Deutschland (1890-1914), in:
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 76 (1989), S. 202-228, hier S. 227.
399 Hermann Schäfer, der sich ebenfalls mit der italienischen Immigration nach Deutschland beschäf¬
tigt, schreibt hierzu: „Klassensolidarität kam nicht auf, Herkunfts- und Sprachsolidarität dominierten
weitgehend über Klassensolidarität.“ Siehe Schäfer, Hermann: „Italienische Gastarbeiter“ im Deut¬
schen Kaiserreich (1890-1914), in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 27 (1982), S. 192-214, hier
S. 210.
t0" Vgl. Bellot, Josef: Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft
(1815-1918) (Rheinisches Archiv, Bd. 45), Bonn 1954, S. 116 f.; Mallmann 1989, S. 248.
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