Praktik. 2. Rechts- und Staatsphilosophie.
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jeder in jedem es stärkt und zum Siege bringen hilft. Damit
aber wird dann ,,alles neu“, es wird die Schuld von uns ge¬
nommen, die heute mehr denn je jedem gegen jeden bewußt
sein muß, die wirklich jedem ernsteren Menschen heute be¬
wußt ist und drückender als alles, worum man sonst bangen
mag, auf ihm lastet. Sie könnte gar nicht anders von uns ab-
fallen; nicht dadurch, daß wir versuchten, sie willkürlich
von uns abzuschütteln, oder durch irgendeine Wiedergut¬
machungsleistung, und wäre es mit dem Opfer unseres ganzen
äußeren Lebens, sie zu tilgen; sondern damit allein, dass wir
sie ganz auf uns nehmen, sie, jeder sich selbst und jeder dem
andern, frei bekennen und durch gegenseitige Guttat zu
büßen willig sind. Dann allein wird der Schuldigspruch und
der Fluch, den er auf uns warf, zum Freispruch; die Last
fällt ab, „Strick ist entzwei und du bist frei.“
§ 201. Das ist der Sinn aller tieferen Religion; es ist der
tragische Sinn der Erlösung: durch den Tod, durch des Todes
Tod, zu ewig todunfähigem Leben. Dann wird es offenbar,
daß die Welt, daß alle Welt, daß auch diese Erde, diese
Menschheit, heute ähnlicher der grausesten Hölle als einem
Himmelreich, allem finsteren Schein zumTrotz, dennoch Gottes
ist; daß sie seinem Regiment nicht entronnen ist und ewig
nicht entrinnen kann; daß Gott mitnichten einen Teil seiner
Herrschaft abgegeben hat an den ewigen Widersacher; daß
Sünde selbst und Tod und Verdammnis zuletzt nichts anderes
als Wege sind, die gerade in der äußersten, der unendlichen
Entfernung von ihm nicht anders können als sich zu ihm
zurück wenden und zuletzt in ihm enden.
Wo dieser Glaube Erfahrung und Leben geworden ist, da
sind alle die Klüfte überwunden, die jetzt noch die Mensch¬
heit spalten, geheilt auch der tiefste Riß, der jeden vom an¬
dern trennt und jeden in sich selbst zerstückt: der Riß zwi¬
schen Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht; niedergelegt
mit den anderen Schranken allen auch die Schranke zwischen