Praktik, i. Wirtschaftsphilosophie.
419
er nicht doch Mutterkind und bleibt es bis zum letzten Atem¬
zug, mit dem ihm oft erst recht eigentlich bewußt wird, wie
sehr er es geblieben ? Das vergeht nicht, mag es sich noch
so tief verstecken. Es ist, zumal angesichts der grausamen
Tatsache der wilden Selbstzerfleischung der heutigen Mensch¬
heit allerdings nicht Sache irgendeines Erfahrungsbeweises,
sondern schlechterdings nur des Glaubens, daß dieser ur¬
sprüngliche Zug zur Gemeinschaft im Menschen überhaupt
nicht auszutilgen ist. Selbst der heute so weitgehende und
so sehr begreifliche Zweifel daran ist am Ende nur ein Aus¬
druck der Enttäuschung darüber, daß der dem Menschen
so natürliche Zug zur Gemeinschaft sich nicht so stark und
sieghaft ausspricht, wie man — woher eigentlich? — er¬
wartet hat.
§ 165. Zuletzt beruht die Zuversicht, daß der Zug zur
Gemeinschaft in der Menschheit nicht sterben könne, sondern
zuletzt doch immer siegreich wieder durchdringen müsse, auf
dem Glauben an das Leben. Leben glaubt nicht an Tod.
Nicht nur vermag es nicht zu denken, wie aus Nicht-Leben
je Leben hervorgehen sollte, sondern es vermag überhaupt
keinen Tod zu denken, keinen Tod des Lebens selbst. ,,Streit
ist der Vater der Dinge,“ nach Heraklit. Das ist in einem
Sinne wohl richtig: er ist Ausdruck und Sinn der Differen¬
zierung. Aber wenn nicht dem zentrifugalen Zuge der zen¬
tripetale die Wage hielte, so führte er notwendig ins Chaos,
in völlige Auflösung und Selbstzerstörung; er müßte längst
dahin geführt haben. Dagegen aber wehrt sich allzeit der
echte Selbstbehauptungstrieb, der nicht auf Differenzierung
verzichtet, aber auch nicht haltlos und unbedingt an sie aflein
sich hingibt, sondern gegen sie stets gleichzeitig den Zug zur
Einheit setzt. Derselbe Heraklit, der das Wort vom Kriege
gesprochen hat, hat doch andererseits stets gegenüber der
Differenzierung und nicht nur mit gleichem, sondern zuletzt
höherem Gewicht den Rückgang in die Einheit, also die Kon-
27