Unsere Zeit und das Problem des Mythus 83
andere typische Mythus zur Entwicklung gelangt ist,
der Mythus vom ewigen Sein,
Sollte das nicht der neue Mythus sein, den wir
suchen und gebrauchen, nachdem wir den Mythus vom
ewigen Werden nach allen Richtungen und in allen
denkbaren Abstufungen ausgebildet und selber in dem
Gedanken des unaufhörlichen Werdens und seiner
unabschließbaren Entwicklung uns selber nahezu rest¬
los verloren haben ? Wie aber lassen sich Wesen und
Sinn dieses Mythus vom ewigen Sein genauer ver¬
deutlichen ? Wohl durch nichts besser als durch die
Ideen von Gott und von Natur. So sind zwei,
aber untereinander eng verbundene Formen der Aus¬
prägung und Entfaltung jenes Mythus gegeben: der
Mythus von Gott und der Mythus von der
Natur. Sie beide, zusammengefaßt und in spekula¬
tiver Deutung durchgeführt, zeitigen die Wendung
zur Religion, d. h. zu dem größten, hinreißend¬
sten Mythus der Kultur. —
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Wie nun unter den allgemeinen Eigentümlichkeiten
des europäischen Geistes und unter den Besonderheiten
unserer gegenwärtigen Lage ein solcher Mythus in
konkreter Gestalt sich entfalten und zu umgreifender
Wirksamkeit gelangen könnte, das läßt sich,in ein¬
deutiger und einwandfreier Weise nicht ausmachen.
Keinen Augenblick können die ungeheuren Schwierig-
Menschheit ist. Der Sädhu habe seinen Finger auf die
wunde Stelle der modernen abendländischen Theologie
gelegt, der großenteils die Berührung mit dem unmittel¬
baren Frömmigkeitsleben fehle (S. 209). Außerdem sei er
aber der Träger der gewaltigsten Mission an das Abend¬
land überhaupt, dessen ganze sittliche und religiöse Sub¬
stanz durch unaufhörliche wissenschaftliche Kritik zer¬
fressen sei. „Er steht vor der abendländischen Mensch¬
heit als ein lautes Sursum cordal als Rufer und Führer
zu jener höheren Welt, die ihr als Wirklichkeit entschwun¬
den ist oder zu entschwinden droht“ (Heiler, S. 200—201).
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