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Mythus und Kultur
bende, geradezu Kulturschaffende Wichtigkeit, die
darin zum Ausdruck gelangt, daß es mit seiner Hilfe
Humboldt möglich wurde, seiner Idee und Sehnsucht
und seinen sittlichen und künstlerischen Forderungen
eine lebendige, wirkungsvolle Gestalt zu geben.
Außerdem gewann er dadurch die Grundlage für
seine Erziehungspläne und seine pädagogischen Re¬
formbestrebungen. Ihm selber und seinem Kreise
mußten das Recht und die Notwendigkeit seiner
pädagogischen Ideen und Maßnahmen um so mehr
einleuchten, je mehr er ihnen in dem Griechen-Mythus
Fleisch und Blut zu verleihen vermochte und in diesem
Mythus die Wirklichkeit seines Ideals beglaubigte.
Dieser Mythus versinnlichte und sprach aus, was man
kurz die absolute Gestalt und den absoluten Sinn aller
menschlichen Bildung — unter den Bedingungen, die
der Geist des Neuhumanismus diesem Begriff der
Bildung gab — nennen darf. Denn dieser Sinn gipfelte
in der griechischen Kalokagathie, die eine innere Ver¬
bindung darstellt,,edler, großer, eines Freien wahrhaft
würdiger Gesinnungen in der Seele und dieser lebendige
Ausdruck derselben in der Sittlichkeit der Bildung,
und der Grazie der Bewegungen des Körpers“ und
,,die sich bei keinem Volke wieder in dem hohen Grade
findet“ wie bei den Griechen.-
2. An dem Mythus vom Griechentum läßt sich nun
auch als an einem hervorragenden Sonderfall die ge¬
radezu ungemeine Bedeutung studieren und erkennen,
die der Mythus überhaupt innerhalb der menschlichen
Gesellschaft und für dieselbe besitzt. Es bedarf in dieser
Beziehung nur eines kurzen Hinweises darauf, daß
Wilhelm von Humboldt zu den Schöpfern des huma¬
nistischen Gymnasiums gehört. Ist doch durch dieses
der Mythus vom Griechentum für ungezählte Ge¬
schlechter zu einer entscheidenden pädagogischen
Wertform, ja zur Substanz ihres sittlichen Wesens