Typische Sondermythen
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was für Winckelmann, Goethe, Schiller, Wil¬
helm von Humboldt jene zum Ideal umgeschaffene
und zum Ideal verklärte Welt, die sie Griechentum
nannten, bedeutete. Sie erschauten in einer Phantasie¬
wirklichkeit das als erreicht und bewährt, was ihnen
als Sinn und Gehalt des Lebens galt, und zwar sowohl
in Hinsicht auf die Gesinnung als auch in bezug auf
die reale Form und Existenz.
1. Wilhelm von Humboldt hatte das Ziel der Er¬
ziehung zur Humanität mit den berühmten Worten
umschrieben: „Der wahre Zweck des Menschen, nicht
der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen
die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt —
ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner
Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Frei¬
heit die erste und unerläßliche Bedingung. Allein außer
der Freiheit erfordert die Entwicklung der mensch¬
lichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der
Freiheit eng Verbundenes — Mannigfaltigkeit der
Situationen. Auch der freieste und unabhängigste
Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich
minder aus.“ Die Idee dieser Erziehung sieht er bei
den Griechen verwirklicht1). Zwar weiß er natürlich,
daß das, was er von dem Charakter der Griechen sagt,
„unmöglich von einer ganzen Nation in allen ihren
einzelnen Individuen buchstäblich wahr sein kann“.
Dennoch gilt der Gedanke als Richtschnur: „Die
griechische Vorwelt dient uns zu einem Ideal“. Denn
was sie uns als erreicht, als möglich zeigt, das ist die
„schöne Einheit des Gemüts“. Uns Moderne quält
1) Vgl. außer Eduard Sprangers Werken: „Wilhelm
von Humboldt und die Reform des Bildungswesens“ und
„Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee“, auch
Paul Hensels Aufsatz: „Wilhelm von Humboldt“,
Kant-Studien Bd. XXIII, 1918, Heft 2—3, S. 174ff.