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Mythus und Kultur
Legende reden, heißt also nicht etwa, die Existenz
Platons in Abrede stellen, ebenso wenig die Möglich¬
keit einer objektiven Erkenntnis der philosophischen
Leistung Platons bezweifeln. Die geisteswissenschaft¬
liche Hermeneutik, dieses beinahe wichtigste Kapitel
einer theoretischen Grundlegung der Geschichts¬
wissenschaft, zeigt, daß es eine Reihe wissenschaftlich
einander gleichberechtigter Formen und Typen der
Auffassung und Auslegung gibt, und daß das , Recht4
und die Objektivität einer jeden in der inneren Folge¬
richtigkeit und in der methodischen Strenge des in
ihr sich erfüllenden Bildes begründet sind.-
Die ewige Aktualität der ganz großen Geister der
Weltgeschichte prägt sich darin aus, daß jedes Zeit¬
alter und jedes Geschlecht sie nach seinen Bedürfnissen
sich zurechtlegen kann. Es entdeckt an ihnen irgend¬
welche Momente, die zu seinem Wesen eine besondere
fesselnde Beziehung haben. Und diese Momente wer¬
den nun in umdeutender Vereinseitigung aus der
Gesamtheit des Originals herausgelöst. Das im prak¬
tischen und wissenschaftlichen Leben so unendlich
häufig geübte Verfahren der Auslegung beruht auf
den sehr starken mythologisierenden Neigungen der
menschlichen Natur und dient denselben und unter¬
steht in weitem Umfange der mythologisierenden
Phantasie.
Außer Platon sind es von den Philosophen im we¬
sentlichen wohl in erster Linie noch Spinoza und
Kant, deren Leistung in die Form des Mythus ein¬
gegangen ist. Vornehmlich auf diese Weise gedieh
ihr Werk zu seiner außerordentlichen geschichtlichen
und weltanschaulichen Wirksamkeit. Wenn Georg
Simmel seine Darstellung der Philosophie Kants mit
der Erklärung einleitet: ,,Die Absicht dieses Buches
ist keine philosophisch-geschichtliche, sondern eine
rein philosophische. Es gilt ausschließlich, diejenigen