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Mythus und Kultur
I).
Der metaphysische Sinn, der in dieser durch den
Mythus sich vollziehenden Wendung des Lebens
ruht, und um dessentwillen das Leben zur Schöpfung
eines Mythus greift, läßt sich auch durch folgende Über¬
legung klarstellen oder zum mindesten umschreiben.
Der übliche Ablauf der geschichtlichen Bewegung
verstrickt Menschen und Zeiten immer unerbittlicher
in das Netz empirischen Geschehens, umklammert sie
immer stärker mit starren, seelenlosen Konventionen
und formalen Bindungen, pflanzt vor ihnen Größen
und Autoritäten auf, deren Recht und Anerkennung
schließlich nur auf der äußeren Dauer ihres Daseins
und nur auf einer durch Gewohnheit gestützten Tra¬
dition gegründet scheinen. Mit einem starken Wort:
Das Reich der Schatten und die Gesetze der Schatten -
weit breiten sich immer mehr aus. Alle geschichtlichen
Geltungen scheinen alsdann ihr Ansehen und ihre
Bürgschaft lediglich aus der Tatsächlichkeit des Um¬
standes zu ziehen, daß sie unter bestimmten histori¬
schen Bedingungen entstanden sind und damit einem
bestimmten historischen Zusammenhang angehören.
Aus der Tatsache, daß sie geworden sind und einen
Teil des geschichtlichen Bestandes darstellen, suchen
sie ihren Wert abzuleiten und zu beglaubigen. Und
macht man sich an ihre Begründung, unternimmt
man ihre Rechtfertigung4, dann glaubt man, mit
einer entwicklungsgeschichtlichen Ableitung und Be¬
trachtung auskommen zu können.
Da jedoch keine Tatsächlichkeit einen Wert, eine
Bedeutung zu schaffen imstande ist, und mag sie einen
noch so großen historischen Raum einnehmen, so gerät
das geschichtliche Leben, wenn es einmal keiner an¬
deren Leitung unterstellt ist als den empirischen Ge¬
setzen seines konkreten Daseins und Dahingetrieben¬