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Mythus und Kultur
giöse Glaube für sich den Vorzug und die Besonderheit
in Anspruch nehmen, daß er allein ein Anrecht auf
den Mythus besäße. Was ihn auszeichnet, ist nur eine
spezifische Form des Mythus, vielleicht eine solche
von der größten Inhaltlichkeit und Innigkeit und
darum begabt mit dem stärksten Antrieb zur Er¬
lösung, zur Weltüberwindung. Doch eignet religiösen
Zeitaltern keineswegs der ausschließliche Besitz eines
Mythus, keineswegs das ausschließliche Anrecht an
einem solchen. Denn überall da, wo sich innerhalb des
geschichtlichen Lebens eine Beziehung zu einem in
diesem Leben nicht ganz eingebetteten und sich ihm
nicht restlos ausliefernden Sinnhaft-Absoluten er¬
öffnet, stehen wir vor der Wirksamkeit eines Mythus.
Und da sich diese Durchbrechungen der empirischen
Lebenszone an hunderttausend Ecken zeigen, da die
Dialektik und Paradoxie der Kultur in einer un¬
aufhörlichen Transzendierung ihrer Bestandteile und
Vorgänge besteht, worauf besonders Georg Simmel
und Heinrich Rickert aufmerksam gemacht haben,
so bekundet sich in zahllosen Fällen und in allen
Schichten und Bewegungen der Kultur die schöpferische
und unvermeidliche Leistung des Mythus. Man muß
ihn geradezu als eine für alle Kultur wesentlich be¬
stimmende Bedingung bezeichnen. Und keine Philo¬
sophie der Kultur oder im philosophischen Geiste ge¬
haltene Geschichte der Kultur kann an dieser konsti¬
tutiven Bedeutung des Mythus vorübergehen.
So läßt sich in Zusammenfassung der bis jetzt
gebotenen Ausführungen als Ergebnis aussprechen:
Überall da machen sich das Auftreten und die Betä¬
tigung eines Mythus geltend, wo die Relativität und
die geschichtliche Gebundenheit eines Glaubens-,
Vorstellungs-, Gedankenkreises überschritten wird,
wo irgendein Bezirk der Kultur, über das Empirische
seines Bestandes und Ansehens hinausgreifend, nach