Die allgemeine Bedeutung des Mythus 23
vielmehr eine Aufgabe mehr oder minder konstruk¬
tiver Deutung ist. Die Einsicht darin, daß die em¬
pirische Geschichte in jedem ihrer Momente und
Elemente, sofern diese wirklich von historischer Zu¬
ständigkeit sind, auf einen Zusammenhang hinweisen
und hinarbeiten, den wir einmal der Kürze halber als
einen intelligibelen bezeichnen wollen, verdanken wir
bekanntlich der spekulativ-idealistischen Geschichts¬
philosophie, wie sie Kant begründet und in Fichte,
Hegel, Wilhelm von Humboldt zur reifsten Aus¬
bildung gelangt ist. Die großartige Leistung dieser
Geschichtsmetaphysik besteht darin, daß sie den
sinnhaften, absoluten Hintergrund alles Empirischen
und Gegebenen in der Geschichte mit methodischer
Konstruktion gedeutet hat. Ihrer konstruktiven und
spekulativen Einstellung gelang es, über die empirisch¬
historische Erkenntnis der Geschichte hinauszugehen
und die Geschichte zur Idee zu erheben und damit
erstmalig die Kultur als Idee zu sehen und in ihrem
ideellen Gehalt zu entwickeln.-
C.
Dieses Aufgraben des Absoluten in allem Relativen,
dieses Erblicken eines ewigen Sinnes in allen Zeit¬
lichkeiten ist seinem Prinzip und Wesen nach nichts
anderes als dieselbe Fähigkeit und Funktion, die wir
gewöhnlich als ein Vorrecht und als eine Eigentümlich¬
keit mythologisch gerichteter Zeitalter anzusprechen
pflegen. Sogar ein Geschlecht, das einem vollkom¬
menen Positivismus und Naturalismus verfallen wäre,
und das die Aufgabe und Kraft der menschlichen Er¬
kenntnis auf die bloße Feststellung der Gesetzmäßig¬
keit der Erscheinungen beschränkt wähnt, hat in der
notwendig vorauszusetzenden Geltung dieser Gesetz¬
lichkeit seinen Mythus. Deshalb kann nicht der reli¬