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Mythus und Kultur
Gesinnung, Geistesart, Wertungen, theoretisches
und praktisches Verhalten einer Zeit oder eines Le¬
benskreises, eines Geschlechtes oder eines einzelnen
Menschen stehen ihrem letzten Sinn nach jenseits der
Möglichkeit einer rein begriffsmäßigen Begründung
und Ableitung. Sie sind vielmehr in ein System my¬
thischer Voraussetzungen eingebettet, die darin ihr
Wesen haben und ihre Kraft darin auswirken, daß sie
dem ganzen äußeren und inneren Wollen und Tun die
Sicherung der Unbedingtheit gewähren. Durch sie
wird die empirische Gegebenheit der Lebenszustände
und Lebensbetätigungen verankert in einem Zu¬
sammenhang, dessen Struktur erhaben ist über die
Zufälligkeiten des geschichtlichen Wandels, weil seine
Gesetze den Charakter von Sinnbeziehungen oder
Sinnbezogenheiten der äußeren Lebenserscheinungen
auf irgendeinen als unbedingt gültig anerkannten oder
geglaubten geistigen Wert besitzen. Sogar ein der
Stimmung des Relativismus und Skeptizismus hin¬
gegebenes Zeitalter hat in der Annahme der Geltung
des Relativismus und Skeptizismus eine Anknüpfung
an ein Unbedingtes1).
Darin bekundet sich der grundsätzliche und unver¬
wischbare Unterschied desjenigen Zusammenhanges,
den wir Geschichte nennen, gegenüber allen Bezügen
naturhaften Seins, daß jede seiner Stufen und Be¬
gebenheiten, daß jeder seiner Zustände und jede in
ihm auftretende Person sich nicht restlos darin er¬
schöpft und ausspricht, daß sie bloß da ist und wirkt.
Ihnen muß vielmehr eine immanente Beziehung auf
einen Sinn oder ein Ziel eignen, deren Erfassung und
Feststellung nicht sowohl eine Tat der Erkenntnis als
l) Der Begriff der „Annahme“ in dem Sinne der Plato¬
nischen Hypothesis verstanden, wie er in der Philosophie
der Gegenwart besonders von den Marburgern, hier in
erster Linie von Hermann Cohen und Natorp, heraus¬
gearbeitet und vertreten wurde.