Full text: Mythus und Kultur

Die allgemeine Bedeutung des Mythus 21 
anders als früher seine unverrückbaren Schranken“ 
(S. 3). 
Auch in der ,Kritik4 verbirgt sich ein Mythus. Er 
hat hier die Gestalt der unbedingten Überzeugung von 
der Geltung und dem Wert der Wissenschaft, von der 
Kulturbedeutung der Erkenntnis. Und diese Über¬ 
zeugung gelangt in der wissenschaftlichen Kritik zu 
theoretischem Ausdruck. Daß die Wissenschaft eine 
solche Bedeutung hat, ist, wenn man sich von der 
banalen Feststellung ihrer äußeren Erfolge und von 
dem empirischen Hinweis auf ihren unvergleichlichen 
Siegeszug fernhält, rein begriffsmäßig nicht beweisbar. 
Hier äußert sich vielmehr die mythenbildende Kraft 
eines Postulates, das sein Recht letztlich aus der Idee 
einer höheren Bestimmung des Menschen, aus dem 
Gedanken, daß die wahre Natur des Menschen im 
Reiche der Intelligibilität liegt, zieht. Und die Er¬ 
füllung dieses Postulates wird nun der Wissenschaft 
zugesprochen, wird ihr zugetraut. So beruhte das 
Eintreten des 18. Jahrhunderts für das Werk der Auf¬ 
klärung und für die Ersetzung der dogmatischen, auf 
Offenbarung sich berufenden Gläubigkeit durch die 
Vernunftreligion und Vernunfttheologie auf keinem 
geringeren Mythus als die Geistesverfassung und das 
ganze System der mittelalterlichen Katholizität. Hier 
wie dort waren Voraussetzungen im Spiel, die ihr 
Recht und ihr Ansehen durch nichts weniger als durch 
Nützlichkeitserwägungen beglaubigen lassen. Läßt es 
sich doch mit nichten in endgültiger und einwand¬ 
freier Entscheidung ausmachen, daß die Aufklärung 
oder daß die Vertretung und Beibehaltung der mittel¬ 
alterlich-kirchlichen Gesinnung und Stimmung „nütz¬ 
lich“ waren oder sind. Auch an diesem Punkt leuchtet 
die theoretische Unzulänglichkeit, ja Unhaltbarkeit 
und Undurchführbarkeit aller pragmatistisch-utilita- 
ristischen Beweisführung ohne weiteres ein. —
	        
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