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Mythus und Kultur
baren Mythus. Deshalb kann man dem Nietzsche
der ersten und dritten Periode seiner philosophischen
Entwicklung nicht recht geben, dem der angeblich
ganz rationalistische ,Sokrates4 als Verkörperung einer
blutlosen, negierend und zweifelsüchtig gerichteten
Aufklärerei erschien, und der behauptete, der abstrakt
geleitete Mensch, die abstrakte Erziehung, die ab¬
strakte Sitte, das abstrakte Recht, der abstrakte
Staat ermangelten des Mythus. Und man kann eben¬
sowenig Friedr. Theodor Vischer in seiner Be¬
hauptung zustimmen: „Kritik ist der Tod alles
Mythus4' (Kritische Gänge, 3. Band S. 34, herausg.
von Robert Vischer). Denn durch die Kritik wird
nicht aller und jeder Mythus vernichtet, sondern nur
eine bestimmte Ausprägung und Erscheinung dessel¬
ben. Die Kritik selber, sofern sie nur irgendwie
schöpferisch ist, also einen bestimmten wissenschaft¬
lichen Gesichtspunkt in methodischer Folgerichtigkeit
durchführt und zu dem Fortschritt der menschlichen
Erkenntnis und Einsicht beiträgt, m, a. W.: positive
Arbeit leistet, beruht ebenfalls auf einem Mythus und
betätigt sich in dem Rahmen eines solchen. So stimme
ich durchaus Ernst Bertram zu, der in seinem ein¬
drucksvollen Werk: «Nietzsche, Versuch einer Mytho¬
logie» sagt: „Selbst in sehr bewußten, analytisch ge¬
richteten Zeiten, in Perioden sogenannter Allgemein¬
bildung, wird die Legende (die B. ganz im Sinne
unseres Begriffes Mythus gebraucht) nicht ausge¬
schaltet, ja nicht einmal zurückgedrängt. Die zu¬
nehmende Bewußtheit, die Selbstkontrolle, das philo¬
logische Wissen um die tatsächlichen Lebensumstände
einer großen Erscheinung, all das hat nur einen recht
schmalen Einfluß auf die Entstehung der Legende. Weder
hemmend noch fördernd ist dieser Einfluß wesentlich.
Der überwache und überwachende Intellekt hat, wo
ein Mythus sich durchsetzen will, auch heute nicht