Mythus und Kultur
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schichtlichen Lebenskreises. Wem sich die Voraus¬
setzungen, der Sinn und der Wert der Mythen er¬
schließen, dem offenbaren sich damit die wesenhaften,
jedoch logisch nie eindeutig bestimmbaren Gründe
aller geschichtlichen Leistungen. Denn sowohl das,
was eine Zeit oder ein Geschlecht will, worauf die An¬
spannung gerichtet ist, was dem Wollen als Grundlage
oder als Ziel dient, nicht zuletzt auch das, was als
Schwäche und Unzulänglichkeit empfunden oder er¬
kannt wird, erklingt aus den Mythen mit geheimnis¬
voller, aber vernehmlicher Stimme.
Es entspricht einem unmittelbaren, elementaren
menschlichen Bedürfnis, die Neigungen und Wünsche,
die Interessen und Erwartungen der Seele zu einem
Idealgemälde zu verbinden und zu verdichten und
diesem in der Form einer naiven und unbewußten
Hypostasierung und Objektivierung irgendeine Reali¬
tät, und zwar meistens in der Gestalt einer geschicht¬
lichen Lebenslage, zu verleihen. Man glaubt das, was
einem fehlt, aber was man erstrebt, in irgendeiner
anderen Zeit, bei irgendeinem Volk in fruchtbarer
Tatsächlichkeit und in reifer Wirksamkeit zu er¬
blicken. So bildet sich Nietzsche, der so bitter
unter dem „chaotischen Durcheinander aller Stile“ der
Deutschen seiner Tage litt, den Mythus von der „Ein¬
heit des künstlerischen Stiles in allen Lebenäußes-
rungen eines Volkes“. Er nannte diese Form der Ein¬
heit „Kultur“ und schuf den weiteren Mythus, daß
die Griechen diese Einheit, also Kultur, erreicht hätten.
Auch darin ein Schüler Goethes, eines der größten
Mythenschöpfer aller Zeiten. Unbekümmert um die
strengeren Ergebnisse der philologischen und histo¬
risch-kritischen Erforschung der griechischen und hel¬
lenistischen Welt gestalteten sie den außerordentlich
eindrucks- und wirkungsvollen Mythus vom Hellenis¬
mus und vom klassischen Griechentum. Sie ersannen