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Mythus und Kultur
zu jener Philosophie vor uns. Auch Cassirer erfaßt,
ebenso wie das in der vorliegenden Abhandlung getan
wird, den Mythus nicht vom psychologischen Stand¬
punkt aus ; er nimmt ihn vielmehr als „eine bestimmte
Art der Gestaltgebung“, als „eine Richtung der
Objektivierung, die ... eine ganz bestimmte Weise der
«Synthesis des Mannigfaltigen», der Zusammenfassung
und der wechselseitigen Zuordnung der sinnlichen
Elemente in sich schließt“ (S. 7). So sucht er eine
„Logik auch des Mythos und der mythischen Phan¬
tasie“ (S. 6) zu entwickeln, indem er den Nachweis
führt, „daß dem mythischen Denken ein Gesetz von
eigener Art und Prägung zugrunde liegt“ (S. 9). Den
Inhalt der Untersuchung bildet nun die genauere
Charakteristik dieses Gesetzes. Doch sei bemerkt,
daß Cassirer den Begriff des Mythus in einem wesent¬
lich engeren Sinne nimmt, als es in meiner Abhandlung
geschieht. Er bleibt mit seiner Auffassung innerhalb
der gewohnten Vorstellung, wonach der Mythus die¬
jenige Erkenntnisstufe charakterisiert, die einer frühen,
vorwissenschaftlichen Einstellung, also den Anfangs¬
stadien der Kultur eignet. —
Der Zweck der folgenden Darstellungen ist also der,
den metaphysischen Sinn und die eigentümliche, oft
entscheidungsvolle, stets ungemein charakteristische
Stellung des Mythus innerhalb der geschichtlich-ge¬
sellschaftlichen Kultur zum mindesten anzudeuten.
Etwa im Sinne einer etwas genaueren Ausführung des
unserer Untersuchung vorangestellten Wortes von
Fr. Th. Vischer oder jenes Satzes von Friedrich
Nietzsche in der «Geburt der Tragödie»: „Ohne
Mythus aber geht jede Cultur ’hrer gesunden schöpfe
rischen Naturkraft verlustig; erst ein mit Mythen um¬
stellter Horizont schließt eine ganze Culturbewegung
zur Einheit ab“ (W. 1, S. 160). ln dieser Beziehung
fehlt unserer wissenschaftlichen Literatur eine um¬