Full text: Ethik

zweifeln. Unsere Gefühle und Affekte sind uns wohl be¬ 
kannt. Sie sind sicher, was auch die Gegenstände sein 
mögen, auf die sie sich richten. Es ist auch von gar keiner 
Bedeutung für unsere Beweisführung, wie es sich mit die¬ 
sen äußeren Dingen verhält: ob sie Realitäten sind oder 
Illusionen, ob wir wachen oder träumen. Denn schlimme 
Träume sind ebenso aufregend, und ein schöner Traum 
(wenn das Leben nichts weiter ist) geht leicht und glück¬ 
lich vorüber. In diesem Traum des Lebens haben daher 
unsere Beweise dieselbe Stärke, unsere Erwägungen und 
Berechnungen gelten, und die Verpflichtung zur Tugend 
bleibt in jeder Hinsicht dieselbe. 
Im ganzen, meine ich, fehlt es nicht im geringsten 
Grade an Sicherheit auch in den Ausführungen über 
die Vorzüglichkeit der geistigen gegenüber den sinnlichen 
Genüssen und der sinnlichen, wenn sie von guter Neigung 
begleitet und mäßig und richtig gebraucht werden, gegen¬ 
über den nämlichen, wenn sie ganz ungezügelt sind und 
die soziale Neigung dabei völlig unbeteiligt ist. 
Nicht geringere Evidenz liegt auch in den Ausfüh¬ 
rungen über die einheitliche Struktur und das Gefüge des 
Geistes und über die Gefühle, aus denen sich das Gemüt 
oder die Seele zusammensetzt und von denen ihr Glück 
und Elend so unmittelbar abhängen. Es ist gezeigt 
worden: daß infolge der notwendigen Verknüpfung und 
Abwägung der Affekte die Verminderung irgend eines 
Teiles in dieser Konstitution sofort darauf hinwirken 
muß, daß die anderen Teile und selbst das Ganze in Un¬ 
ordnung geraten und zerstört werden; daß eben die Ge¬ 
fühle, infolge deren die Menschen lasterhaft sind ganz von 
selbst Qual und Krankheit sind; daß alles Böse, das man 
wissentlich tut, von einem peinigenden Bewußtsein be¬ 
gleitet ist; und daß eine Tat im selben Maße wie sie 
böse ist, die sozialen Freuden schwächen und vernichten 
und die Fähigkeit zu freundlicher Neigung und das Be¬ 
wußtsein, solche zu verdienen, zerstören muß. So können 
wir weder an der Freude noch dem Glück anderer teil¬ 
nehmen noch die Befriedigung empfinden, die aus gegen¬ 
seitigem Wohlwollen oder dem Gedanken an die Liebe 
anderer entspringt; und auf diese gründen sich doch die 
größten aller Freuden. 
Wenn es nun mit der sittlichen Pflichtvergessenheit 
sich so verhält, wenn der Zustand, der aus diesem Abfall 
93
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.