Full text: Ethik

einen anderen liebt und achtet, weil er glaubt, dieser 
besitze eine Tugend, die er doch nicht besitzt, sondern 
nur erheuchelt, deswegen weder schlecht noch verderbt. 
Daher kann ein Irrtum in den Tatsachen, der ja weder 
Ursache noch Zeichen einer bösen Neigung ist, keine 
Ursache des Lasters sein. Aber ein Irrtum in Ansehung 
des Rechten, der ja die Ursache unangemessener Affekte 
ist, muß bei jedem intelligenten oder vernünftigen Wesen 
mit Notwendigkeit die Ursache lasterhafter Handlungen 
sein. 
Aber da es viele Gelegenheiten gibt, wo selbst dem 
Allerscharfsinnigsten die Frage nach Recht und Unrecht 
schwierig und die Entscheidung zweifelhaft erscheinen 
kann, so kann ein unbedeutender Irrtum hierin den 
tugendhaften und edlen Charakter eines Menschen nicht 
verderben. Aber wenn infolge von Aberglauben oder 
schlechten Gewohnheiten sehr große Irrtümer in der Be¬ 
stimmung und Anwendung der Neigungen Vorkommen, 
wenn die Irrtümer entweder ihrer Natur nach so grob oder 
so verwickelt und häufig sind, daß der Mensch in natür¬ 
lichem Zustande und mit richtigen Trieben, wie sie mit 
menschlichem Leben und bürgerlicher Gesellschaft ver¬ 
träglich wären, nicht weiter leben kann: dann ist der 
Charakter der Tugend verwirkt. 
Und so sehen wir, inwiefern Wert und Tugend von 
der Erkenntnis dessen, was recht und unrecht ist, und 
von einem Gebrauch der Vernunft abhängen, welcher 
hinreicht, eine richtige Anwendung der Triebe zu sichern. 
Nichts Scheußliches oder Unnatürliches, nichts, was ein 
böses Beispiel gibt, nichts, was diejenigen natürlichen 
Triebe zerstören könnte, durch welche die Gattung oder 
Gesellschaft erhalten wird, darf aus irgendeinem Grunde 
oder vermöge irgend eines Prinzips oder Begriffs von 
Ehre oder Religion jemals als ein guter und Achtung ver¬ 
dienender Gegenstand erstrebt und verfolgt werden. 
Denn ein solcher Grundsatz muß lasterhaft sein, und 
alles, was ihm gemäß getan wird, kann nur Lasterhaftes 
und Unsittliches sein. Gibt es also etwas, das die Men¬ 
schen mit göttlicher Vollmacht oder unter dem Schein 
und Vorwand irgend eines gegenwärtigen oder zukünf¬ 
tigen Gutes für die Menschheit Verräterei, Undankbar¬ 
keit und Grausamkeit lehrt; gibt es etwas, das die Men¬ 
schen lehrt, ihre Freunde aus Liebe zu verfolgen oder 
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