VIII.
Shaftesbury1
(1671—1713).
Wir wollen nun von dem, was man nur gut nennt und
was innerhalb des Bereichs und der Fähigkeiten jedes
sinnlichen Geschöpfes liegt, zu dem fortschreiten, was
man Tugend oder Verdienst nennt und nur dem Menschen
zugesteht.
Bei einem Wesen, das allgemeine Begriffe von Dingen
zu bilden fähig ist, sind nicht nur die äußeren Dinge,
welche sich den Sinnen darbieten, Gegenstände derTriebe;
sondern auch die Handlungen selbst und die Affekte,
wie Mitleid, Wohlwollen, Dankbarkeit und ihre Gegen¬
sätze werden, wenn sie durch Reflexion zum Bewußtsein
gebracht werden, Gegenstände oder Ziele. Sodann erhebt
sich vermittelst der Fähigkeit zu reflektieren ein Affekt
anderer Art gegen eben die Affekte selbst, die bereits
gefühlt worden sind und nun der Gegenstand eines neuen
Gefallens und Mißfallens werden.
Der Fall ist derselbe bei geistigen und moralischen
Gegenständen wie bei den gewöhnlichen Körpern oder
gemeinen Gegenständen der Sinne. Werden Gestalten,
Bewegungen, Farben und Verhältnisse dieser letzteren
vor unser Auge gestellt, so ergibt sich notwendig Schön¬
heit oder Häßlichkeit, je nach der verschiedenen Ab¬
messung, Anordnung und Zusammensetzung ihrer einzel¬
nen Teile. Ebenso muß im Betragen und Handeln, wenn
es sich dem Verstände darstellt, mit Notwendigkeit ein
offenbarer Unterschied zu finden sein, welcher der Regel¬
mäßigkeit oder Unregelmäßigkeit der Gegenstände ent¬
spricht.
Die Seele als Zuschauer oder Zuhörer anderer Seelen,
kann nicht ohne Auge und Ohr sein, um Verhältnisse
1 Abgedruckt aus der „Untersuchung über die Tugend“,
S. 16—21; S. 113—115. Übersetzt und herausgegeben von Paul
Ziertmann. Philosophische Bibliothek, Verlag Felix Meiner,
Leipzig.
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