Full text: Ethik

VII. 
Leibniz 
(1646—1716). 
über Glückseligkeit1. 
Es erhellt, daß Jesus Christus in Vollendung dessen, 
was Moses begonnen, verlangt hat, daß die Gottheit nicht 
bloß der Gegenstand unserer Furcht und Verehrung, son¬ 
dern auch unserer Liebe und Zuneigung sei. Damit 
machte er die Menschen schon im Voraus glücklich und 
gab ihnen einen Vorgeschmack von der kommenden 
Seligkeit; denn nichts ist angenehmer, als das zu lieben, 
was der Liebe würdig ist. Die Liebe ist derjenige Ge- 
müthszustand, welcher sich an den Vollkommenheiten 
des geliebten Gegenstandes erfreut und Gott ist dieser 
vollkommenste und erfreulichste Gegenstand. Es genügt, 
um ihn zu lieben, daß man seine Vollkommenheiten be¬ 
trachte und dies ist leicht, weil wir deren Vorstellungen 
in uns selbst vorfinden. Die Vollkommenheiten Gottes 
sind dieselben, wie die unserer Seele, nur daß Gott sie 
in unbegrenztem Maße besitzt. Er ist der Ozean, von 
dem wir nur Tropfen empfangen haben; in uns wohnt 
einige Macht, einiges Wissen, einige Güte; aber in Gott 
sind sie in aller Fülle vorhanden. Die Ordnung, das 
Ebenmaß, die Übereinstimmung entzücken uns; die 
Malerei und die Musik sind Funken davon; aber Gott 
ist ganz Ordnung, er bewahrt stets die Richtigkeit der 
Verhältnisse, und er bewirkt die allgemeine Ueberein- 
stimmung. Alles Gute ist eine Ausbreitung seiner 
Strahlen. 
Hieraus erhellt, daß die wahre Frömmigkeit und selbst 
das wahre Glück in der Liebe zu Gott bestehen, aber in 
einer verständigen Liebe, deren Kraft mit Einsicht ver¬ 
bunden ist. Diese Art der Liebe läßt an den guten Hand¬ 
lungen jenes Vergnügen finden, welches der Tugend eine 
1 Abdruck aus der „Theodicee“. Vorrede S. 4f., übersetzt und 
erläutert von H. v. Kirchmann, Verlag F. Meiner, Leipzig 1879. 
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