Full text: Ethik

e) Die Macht des Geistes 
Wer der Wahrheit gemäß erkannt hat, daß sich alles 
aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur ergibt und 
nach den ewigen Regeln und Gesetzen derselben abspielt, 
der wird wahrlich nichts finden, was er hassen, ironisch 
belächeln oder verachten könnte. Auch wird er nie¬ 
manden bemitleiden, sondern, soweit die Kraft der 
menschlichen Tugend eben reicht, danach streben, Gutes 
zu tun und froh zu sein, wie das Sprichwort sagt. Wen 
Mitleid sehr leicht packt, und wen Leid oder Tränen 
eines Dritten sehr schnell rühren, der tut oft etwas, was 
er später bereut. Denn handeln wir im Affekt, so fehlt 
uns die genaue Kenntnis darüber, ob unsere Tat auch 
gut ist. Und ferner: Wie leicht werden wir, wenn das 
Mitleid uns beherrscht, ein Opfer falscher Tränen. Ich 
spreche aber hier ausdrücklich nur von dem, der sein 
Tun und Lassen nach den Weisungen der Vernunft be¬ 
stimmt. Wen weder Mitleid noch Vernunft bewegen, 
dem Nächsten beizustehen, den bezeichnet man, da er 
einem Menschen nicht mehr ähnlich zu sein scheint, als 
barbarisch. 
Je mehr die Erkenntnis zunimmt, daß alle Dinge not¬ 
wendig sind, um so größer wird die Macht des Geistes 
über die Affekte. Das bezeugt tagtäglich die Erfahrung. 
Hat einen Menschen ein Verlust betroffen, so mildert 
sich sein Schmerz, sobald er einsieht, daß die Erhaltung 
dessen, was er verloren, auf keine Weise möglich war. 
Ebenso hegt man kein Mitleid für kleine Kinder, weil 
sie nicht sprechen, nicht gehen, nicht logisch denken 
können, und weil sie jahrelang wie im Traume leben, 
ohne von sich selbst zu wissen. W ären aber die meisten 
Menschen schon von Geburt an geistig reif und körper¬ 
lich erwachsen, und käme nur vereinzelt dieser oder jener 
als Kind in unsere Welt, dann würde jeder ihn voll 
Schmerz betrachten. Dann würde eben der Kindheits¬ 
zustand nicht als notwendig und natürlich gelten, son¬ 
dern als ein Fehler und Gebrechen der Natur. 
Wir Menschen vermögen, wenn auch nicht unbedingt, 
von unseren Affekten klare und deutliche Begriffe zu 
entwickeln. Gelingt uns das, so leiden wir auch weniger 
von ihnen. Aus diesem Grunde müssen wir unsere Kraft 
hauptsächlich daransetzen, jeden einzelnen Affekt, so¬ 
weit als möglich, klar und deutlich zu erkennen. Damit 
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