würden sie weder Scham noch Furcht empfinden, wie
wollte man sie dann durch irgendwelche Bande ver¬
einigen und Zusammenhalten können? Der Pöbel ist
furchtbar, wenn ihn nicht die Furcht im Zaume hält.
Deshalb ist es auch nicht befremdlich, wenn die Pro¬
pheten, die nicht nur den Vorteil einiger weniger, son¬
dern das Gesamtwohl im Äuge hatten, so streng forder¬
ten, Demut, Reue und Ehrfurcht zu bewahren. Und in
der Tat können Menschen mit solchen Affekten viel
leichter als andere zu einem vernunftgemäßen Leben,
d. h. zur Freiheit und zum Genuß der Glückseligkeit
gelangen.
Hochmut und Kleinmut dagegen sind, wenn man sie
auf die Spitze treibt, Zeichen äußerster Ohnmacht und
größter Schwäche des Gemütes.
c) Das sittlich Gute und Schlechte.
Unter gut verstehe ich das, was uns nach unserer
festen Überzeugung dazu verhilft, daß wir uns dem von
uns aufgestellten Ideal der menschlichen Natur mehr
und mehr nähern, unter schlecht dagegen das, was uns
an der Heranbildung zu jenem Ideale hindert.
Nur das können wir mit voller Bestimmtheit als gut
oder als schlecht bezeichnen, was unsere Erkenntnis
auch wirklich fördert oder hindert.
Wenn ich sage, jemand entwickelt sich und wird voll¬
kommener, oder er geht in seiner Entwicklung zurück,
so meine ich damit nicht, daß er in ein anderes Wesen
oder in eine Form verwandelt werde; denn ein Pferd
z. B. hört überhaupt auf, ein Pferd zu sein, mag ein
Mensch oder ein Insekt aus ihm werden. Nur wenn die
Kraft zur Tätigkeit, über die ein Wesen auf Grund seiner
Natur verfügt, anwächst oder abnimmt, können wir
von einem Vollkommener- oder Unvollkommenerwerden
sprechen.
d) Die Tugend der Selbsterhaltung.
Im Selbsterhaltungstrieb besteht die eigentliche Natur
des Menschen. Und die Macht des Menschen, etwas zu
bewirken, was sich aus den Gesetzen seiner eigenen Natur
ergibt, nenne ich seine Tugend.
Daraus folgt:
erstens: die Grundlage der Tugend ist das natür-
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