einseitigen und fesselnden Druck gibt sich die Seele dem
Einfluß eines einzigen Gegenstandes so ausschließlich hin,
daß alles andere für sie verschwindet. Manchem Men¬
schen haftet ein und derselbe Affekt mit unabstreifbarer
Hartnäckigkeit an. Alle seine Sinne werden von einem
einzigen Gegenstand so stark erregt, daß er ihn, wenn
auch derselbe gar nicht gegenwärtig ist, unmittelbar vor
sich zu haben glaubt. Geschieht das im wachen Zustand,
so gilt der Betreffende als wahnsinnig oder toll. Ebenso
hält man Menschen, die sich in Liebesglut verzehren und
Tag und Nacht von nichts anderem träumen als von
ihrer Geliebten oder ihrer Buhlerin, für verrückt; sie
reizen unwillkürlich zum Lachen. Wenn der Habgierige
dagegen nur an Gut und Geld, der Ehrgeizige nur an
den Ruhm denkt, so sieht man in solchen Menschen nicht
Geisteskranke; sie erscheinen vielmehr als lästig, und
man verachtet sie allgemein. In Wirklichkeit jedoch
sind Habgier, Ehrgeiz, Wollust usw. Spielarten des
Wahnsinns, obgleich man sie gewöhnlich nicht zu den
Krankheiten rechnet.
Haß kann niemals gut sein.
Mitleid ist bei dem, der nach der Leitung der Vernunft
lebt, ein schlechter und unnützer Affekt.
Gleich dem Mitleid ist auch die Scham keine Tugend.
Und dennoch ist sie gut. Bringt sie doch zum Ausdruck,
daß der Mensch, der vor Scham errötet, noch den Willen
nach einem anständigen Leben in sich hat, wie wir auch
den Schmerz insofern als gut bezeichnen können, als er
anzeigt, daß der verletzte Körperteil noch nicht völlig
abgestorben ist. Und obwohl ein Mensch, der sich einer
Handlung schämt, in trüber und gedrückter Stimmung
ist, so steht er doch viel höher als der, der kein Bedürfnis
nach Ehrbarkeit empfindet.
Demut und Reue sind keine Tugenden: sie entspringen
nicht aus der Vernunft. Der Reuige zumal ist zwiefach
elend und doppelt gebunden in seiner Kraft.
Immerhin aber nützen Demut und Reue und außer
ihnen noch Hoffnung und Furcht mehr, als daß sie
schaden. Denn wenn doch einmal die Menschen dem
Gebot der Vernunft zuwider handeln, dann ist es schon
immer besser, die Überschreitung unter dem Einfluß
jener Affekte zu begehen. Beherrschte nämlich die
geistig Schwachen alle gleichmäßig der Hochmutsteufel,
15 Liebert, Ethik.
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