Full text: Ethik

14- Vergleicht man verschiedene Güter und Übel, so 
ist bei sonst gleichen Verhältnissen das ein größeres Gut 
oder Übel, welches längere Dauer hat, wie das Ganze 
größer als der Teil ist; aus demselben Grunde ist auch das 
größer, welches bei sonst gleichen Verhältnissen intensiver 
ist. Denn mehr und weniger unterscheiden sich wie größer 
und kleiner. Und bei sonst gleichen Verhältnissen ist das 
ein größeres Gut, welches für mehr Menschen als das, 
welches für weniger Menschen gut ist. Denn das All¬ 
gemeinere und das Speziellere unterscheiden sich wie das 
Größere und das Kleinere. 
Ein Gut wieder zu erlangen, ist besser, als es nicht 
verloren zu haben; denn es wird richtiger geschätzt durch 
die Erinnerung an das Übel. Daher ist es besser, gesund 
zu werden, als nicht krank geworden zu sein. 
15. Über die Genüsse, bei denen es eine Befriedigung 
gibt, wie die leiblichen Genüsse, will ich nicht sprechen, 
weil bei ihnen der Genuß durch den Überdruß aufgewogen 
wird und weil sie allzu bekannt sind und einige von ihnen 
unsauber sind. Das höchste Gut oder, wie man es nennt: 
Glückseligkeit oder ein letztes Ziel kann man in diesem 
Leben nicht finden. Denn gesetzt, das letzte Ziel ist er¬ 
reicht, so wird nichts mehr ersehnt, nichts erstrebt. Dar¬ 
aus folgt, daß es von diesem Zeitpunkte an für den Men¬ 
schen kein Gut mehr gibt, ja daß der Mensch überhaupt 
nicht mehr empfindet. Denn jede Empfindung ist mit 
einem Begehren oder Widerstreben verbunden, und nicht 
empfinden heißt: nicht leben. 
Las größte der Güter aber ist ein ungehindertes Fort¬ 
schreiten zu immer weiteren Zielen. Der Genuß selbst des 
Begehrten ist, während wir genießen, ein Begehren, das, 
wie wir stückweise genießen, stückweise fortgeht. Denn 
das Leben ist beständige Bewegung, die in sich selbst 
kreist, wenn sie geraden Weges nicht fortschreiten kann. 
Der Mensch sucht von Natur keine Gesellschaft um der 
Gesellschaft willen, sondern um von ihr Ehre und Vorteil 
zu erlangen; dies begehrt er zuerst, das andere aber nur 
an zweiter Stelle. Die Absicht, weshalb die Menschen 
sich gesellschaftlich verbinden, ergibt sich am besten aus 
dem, was sie dann tun, wenn sie verbunden sind. Ist es 
des Handels wegen geschehen, so sorgt ein jeder nicht 
für den Genossen, sondern für sein eigenes Vermögen; ist 
61
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.