so ist klar, daß auch für uns von dorther die Ordnung und
die Tugenden kommen. Also besitzt wohl Gott diese
Tugenden? Doch es will nicht recht einleuchten, daß
er die sogenannten bürgerlichen Tugenden haben soll,
die Klugheit, die sich auf unser Denkvermögen, die
Tapferkeit, die sich auf das Willensvermögen bezieht,
die besonnene Mäßigung, die in einer Übereinstimmung
und einem gewissen Gleichklang des Willens- und Denk¬
vermögens besteht, und die Gerechtigkeit, als die eigen¬
tümliche Tätigkeit der beiden Vermögen im Herrschen
und Beherrschtwerden. Aber wenn wir Gott nicht in den
bürgerlichen Tugenden ähnlich werden, dann vielleicht
in jenen größeren, die denselben Namen tragen ? Sind in
diesem Fall die bürgerlichen Tugenden gänzlich unnütz,
um unser Ziel zu erreichen ? Nein, man kann nicht sagen,
daß man in diesen nicht auf irgend eine Weise Gott ähn¬
lich werden kann, nennt doch der gewöhnliche Sprachge¬
brauch die, welche sie besitzen, göttliche Menschen; also
muß auch nach ihnen ein gewisses Ähnlichwerden möglich
sein, aber eigentlich ähnlich werden wir nur nach den
größeren gleichnamigen Tugenden. In jedem Falle also
kämen Gott Tugenden zu, wenn auch nicht gerade die
bürgerlichen. Räumt man nun ein, daß man ihm ähnlich
werden könne, so steht nichts im Wege, daß wir dem, der
keine Tugend besitzt, durch unsere eigenen Tugenden
ähnlich werden, wenn auch nicht gerade durch die bürger¬
lichen Tugenden. Und zwar auf folgende Weise: Wenn
etwas durch das Vorhandensein von Wärme erwärmt
wird, so muß doch nicht notwendig das, von dem die
Wärme ausgeht, selbst wieder von einem andern erwärmt
werden, ebensowenig, wenn etwas durch das Vorhanden¬
sein des Feuers warm ist, das Feuer selbst durch das
Vorhandensein eines andern Feuers. Indessen könnte man
auf das erste erwidern, auch im Feuer sei Wärme, aber eine
mit dessen Natur verwachsene, so daß also nach einem
Analogieschluß die Tugend für die Seele etwas Hinzu¬
gekommenes sei, für jenes aber, woher sie sie nachahmend
erhält, etwas mit seiner Natur Verwachsenes; und gegen
den vom Feuer entlehnten Beweis könnte man erwidern,
Gott sei die Tugend, während wir behaupten, Gott ist
größer als die Tugend. Wenn das, dessen die Seele teil¬
haftig wird, identisch wäre mit dem, von dem sie es erhält,
so müßte man sich allerdings so ausdrücken; aber zwischen
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