wenn es ohne Eigennutz geschieht, gefallsüchtig, und
wenn es aus Selbstsucht geschieht, schmeichlerisch ge¬
nannt. Wer endlich hierin zurückbleibt und in allen
Stücken widerwärtig ist, wird als streitsüchtig und eigen¬
sinnig bezeichnet.
Auch bei den Affekten und dem durch sie bestimmten
Verhalten gibt es eine Mitte. So ist die Scham keine
Tugend, und doch wird der Schamhafte gelobt. Denn
auch hier redet man von einem, der die Mitte hält, von
einem anderen, der die Sache übertreibt, wie der Blöde,
der sich über alles schämt, und von einem dritten, der
zu wenig, oder gar kein Schamgefühl hat, dem Unver¬
schämten. Wer aber die Mitte beobachtet, ist schamhaft.
Ferner ist Entrüstung die Mitte zwischen Neid und
Schadenfreude. Alle diese drei Affekte führen sich auf
die Freude und die Betrübnis über das, was dem Nächsten
begegnet, zurück. Wem die Entrüstung eigen ist, der
betrübt sich, wenn es denen, die es nicht verdienen, gut
geht; der Neidische, ihn überbietend, betrübt sich über
alle, denen es gut geht, und der Schadenfrohe ist so weit
davon entfernt, sich zu betrüben, daß er sich vielmehr
freut.
Doch hierüber zu reden wird sich an einem anderen
Orte Gelegenheit bieten. Von der Gerechtigkeit aber wer¬
den wir erst weiterhin handeln, indem wir sie, die einen
doppelten Sinn hat, in ihre beiden Seiten zerlegen und von
jeder zeigen, wie sie eine Mitte ist. Desgleichen werden
wir von den logischen oder Verstandestugenden erst später
sprechen.
Die Glückseligkeit als Ziel des sittlichen Handelns.
Nikomachische Ethik I, 5/6.
Kommen wir nun wieder auf das fragliche Gut zurück,
um zu ermitteln, was es sein möge. Wir sehen, daß es
in jeder Tätigkeit und Kunst immer ein anderes ist: ein
anderes in der Medizin, in der Strategik u. s. w. Was ist
nun also das eigentümliche Gut einer jeden ? Doch wohl
das, wegen dessen in jeder alles andere geschieht. Das
wäre in der Medizin die Gesundheit, in der Strategik der
Sieg, in der Baukunst das Haus, in anderen Künsten
wieder ein anderes, und bei allem Handeln und Wollen
das Ziel. Dieses ist es immer, wegen dessen man das
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