in der Überzeugung, daß Übermaß und Mangel die Güte
auf hebt, die Mitte aber sie erhält —, wenn also die guten
Künstler, wie gesagt, diese Mitte bei ihrer Arbeit im Auge
behalten, und wenn die Tugend gleich der Natur sicherer
und besser ist als alle Kunst, so muß wohl dies als
Schlußsatz sich ergeben, daß die Tugend nach der Mitte
zielt, die sittliche oder Charaktertugend wohl verstanden,
da sie es mit den Affekten und Handlungen zu tun hat,
bei denen es eben ein Übermaß, einen Mangel und ein
Mittleres gibt. Beim Zagen z. B. und beim Trotzen, beim
Begehren, Zürnen, Bemitleiden und überhaupt bei aller
Empfindung von Lust und Unlust gibt es ein Zuviel und
Zuwenig, und beides ist nicht gut; dagegen diese Affekte
zu haben, wann man soll, und worüber und gegen wen
und weswegen und wie man soll, das ist die Mitte und
das Beste, und das ist die Leistung der Tugend. Ebenso
gibt es bei den Handlungen ein Übermaß, einen Mangel
und eine Mitte. Die Tugend aber liegt auf dem Felde
der Affekte und Handlungen, wo das Übermaß verfehlt
ist und der Mangel Tadel erfährt, die Mitte aber Lob ern¬
tet und das Rechte trifft. Beides aber, gelobt werden und
das Rechte treffen, ist der Tugend eigentümlich. Mithin
ist die Tugend eine Mitte, da es ihr wesentlich ist, nach
dem Mittleren zu zielen.
Ferner kann man auf vielfache Weise fehlen — das
Schlechte gehört ja zum Unbegrenzten, wie die Pytha-
goreer bildlich sagten, das Gute aber zum Begrenzten —,
dagegen kann man es nur auf eine Weise recht machen;
weshalb auch jenes leicht ist und dieses schwer. Denn es
ist leicht, das Ziel zu verfehlen, aber schwer, es zu treffen.
Auch aus diesem Grunde gehört demnach das Übermaß
und der Mangel dem Laster an, die Mitte aber der Tugend.
Denn: „Nur eine Weise kennt die Tugend, doch viele das
Laster."
Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens,
der die nach uns bemessene Mitte hält und durch
die Vernunft bestimmt wird und zwar so, wie ein
kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt. Die Mitte
liegt zwischen einem doppelten fehlerhaften Habitus,
dem Fehler des Übermaßes und des Mangels; sie ist aber
auch noch insofern Mitte, als sie in den Affekten und
Handlungen das Mittlere findet und wählt, während die