II.
Aristoteles1
(384—322 v. Chr.).
Sittliche und Verstandestugenden.
Nikomachische Ethik I, 13.
Da aber die Glückseligkeit eine der vollendeten Tugend
gemäße Tätigkeit der Seele ist, so haben wir die Tugend
zum Gegenstände unserer Untersuchung zu machen, da
wir dann auch die Glückseligkeit besser werden verstehen
lernen. Um die Tugend scheint auch der wahre Staats¬
mann sich am meisten zu bemühen, da er die Bürger
tugendhaft und den Gesetzen gehorsam machen will. Ein
Beispiel dafür haben wir an den Gesetzgebern der Kreter
und Lacedämonier und wohl noch an einigen anderen
dieser Art. Wenn sonach diese Betrachtung zur Staats¬
kunst gehört, so bleibt unsere Untersuchung zweifellos
dem eingangs bezeichneten Plane treu. Die Tugend aber,
der unsere Betrachtung gilt, kann selbstverständlich nur
die menschliche sein. Wir wollten ja auch nur das mensch¬
liche Gut und die menschliche Glückseligkeit zu ermitteln
suchen.
Unter menschlicher Tugend verstehen wir aber nicht
Tüchtigkeit des Leibes, sondern solche der Seele, wie wir
ja auch unter der Glückseligkeit eine Tätigkeit der Seele
verstehen. Ist aber dem also, so muß der Staatsmann und
der Lehrer der Staatswissenschaft bis zu einem gewissen
Grade mit der Seelenkunde vertraut sein, gerade wie der,
der die Augen oder sonst einen Leibesteil heilen will, deren
Beschaffenheit kennen muß,und zwar jener noch viel mehr
als dieser, weil die Staatskunst viel würdiger und besser
ist als die Heilkunst. In der Tat machen sich die tüchtigen
1 Abdruck aus Aristoteles' Nikomachische Ethik. 2. Aufl.
Übersetzt und herausgegeben von Dr. Eug. Rolfes, Leipzig 1911.
Verlag Felix Meiner.
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