Auf seiten des Individuums ergiebt sich auf diesem
Wege ein System von Grundtugenden. Unter Tugend
überhaupt verstehen wir die Sittlichkeit des Individuums,
unter Tugenden deren einzelne Seiten oder Richtungen,
unter Grund- oder Kardinaltugenden die ursprünglich
zu unterscheidenden Seiten, die aus irgend einer obersten
Einteilung des Begriffs der individuellen Tugend sich er¬
geben müssen. Zum obersten Einteilungsgrund aber
dienen uns die wesentlichen Stufen der Aktivität über¬
haupt; denn Tugend ist nichts Andres als die rechte,
ihrem eigenen Gesetz gemäße Beschaffenheit mensch¬
licher Tätigkeit. Es ist wiederum Plato, der erkannt
hat, daß die ihm schon überlieferten Hauptnamen von
Tugenden wie Vernünftigkeit, Tapferkeit, Maß einen
solchen Einteilungsgrund stillschweigend voraussetzen,
nur freilich ohne Bewußtsein und daher ohne sichere
Abgrenzung der Begriffe. Dadurch war seiner Unter¬
suchung in Hinsicht der individuellen Tugenden der Weg
vorgezeichnet; wir halten diesen Weg inne, nicht aus
Vorliebe oder um der Vorteile einer großen Ueberliefe-
rung willen, sondern weil wir eine sachliche Notwendig¬
keit dabei erkennen.
Das Größte aber, was Plato gelang, war die Ueber-
tragung dieser selben Einteilung auf die soziale Tugend.
Den Begriff einer Tugend der Gemeinschaft hat wohl er
zuerst (allenfalls nach dem Vorgang des Sokrates) auf¬
zustellen gewagt. Er war ihm nahe gelegt durch den
weiten Sinn des griechischen und besonders Sokratischen
Wortes dgcrij (Tugend), das jede Art Tüchtigkeit oder
Rechtbeschaffenheit (Güte) besagen kann. Und so wagte
er die Tugenden der Gemeinschaft nach gleichem Prinzip
wie die des Individuums, daher diesen genau parallel,
abzuleiten. Noch Weiteres fiel ihm dabei wie von selbst
in den Schoß, vor allem der Nachweis der Grundfunk¬
tionen des sozialen Lebens, die ja den Grundfunktionen
des Individuallebens, weil den Grundstufen der Aktivität
überhaupt entsprechen mußten. Im einzelnen zwar ist
hier recht viel am Platonischen Entwurf zu berichtigen
Die Funktionen sind an sich nicht einwandfrei aufge¬
stellt; auch sind sie zu sehr auseinandergerissen und,
ganz gegen die ursprüngliche Absicht, weit mehr gegen¬
sätzlich als einhellig und zu einander komplementär ge¬
dacht. Aber in der Verbesserung dieser Fehler bewährt
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