Ist aber das menschliche Bewußtsein schon in seiner
sinnlichsten Gestalt durch die Gemeinschaft bedingt, so
gilt das Gleiche nur in erhöhtem Maße vom mensch¬
lichen Selbstbewußtsein. Es giebt kein Selbstbe-
wußtsein und kann keines geben ohne Entgegensetzung
und zugleich positive Beziehung zu anderem Bewußtsein;
keine Selbstverständigung ohne die Grundlage der Ver¬
ständigung mit Andern; kein sich selber Gegenüber¬
treten, kein Selbsturteil ohne die vielfältige Erfahrung,
wie Bewußtsein und Bewußtsein sich gegenübertreten,
wie der Eine den Andern beurteilt; nicht Frage noch
Antwort, nicht Rätsel noch Auflösung, als Auftritte im
Selbstbewußtsein des Einzelnen, wenn nicht das alles
zuerst vorgekommen wäre im Wechselverhältnis der In¬
dividuen in der Gemeinschaft. Wie könnte ich mir selbst
zum Du werden, wenn nicht erst ein Du mir gegenüber¬
stände, in dem ich ein anderes Ich erkenne?
Das alles aber findet nicht nur ebenso, wie im theo¬
retischen, auch im praktischen Gebiet Anwendung; viel¬
mehr keine dieser Beziehungen ist jemals bloß theo¬
retisch, sondern unmittelbar und unvermeidlich auch
praktisch. Jede Gemeinschaft von Bewußtsein und Be¬
wußtsein wirkt notwendig auch auf den Willen; jede
menschliche Gemeinschaft ist notwendig in irgendwel¬
chem Grade Willensgemeinschaft.
Gewiß ist das Wollen, und gar das reine Wollen, an
sich schlechthin individuell; kein Andrer kann für mich
Willen haben, für mich gut sein. Auch wirkt Gemein¬
schaft nicht insofern willenbildend, am wenigsten im
sittlichen Sinne, als der Eine nur passiv unter dem Ein¬
fluß des Andern steht. Aber das ist es in der Tat nicht,
was wir Gemeinschaft nennen. Wir verstehen darunter
vielmehr, was ja auch das Wort andeutet: daß man
einen geistigen Besitz gemein hat und zu gleichen Rechten
genießt; nicht also der Eine mit seinem geistigen Inhalt
in bloßer Abhängigkeit vom Andern verharrt. Diese Ab¬
hängigkeit, wie sie wenigstens dem Kinde im Verhältnis
zum Erwachsenen natürlich ist (auch da übrigens nicht
in dem Grade stattfindet, wie Pädagogen gerne möchten),
mag immerhin den Ausgangspunkt bilden; aber von
Willensgemeinschaft, von Willensbildung durch Gemein¬
schaft kann eigentlich erst dann und genau so weit ge¬
redet werden, als der Eine dem Andern als Gleicher gegen-
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